Angstkind. Sonja Schöning

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Angstkind - Sonja Schöning

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Hause kommen ließe.

      Eine andere Begebenheit ist mir gleich lebendig in Erinnerung. Meine jüngere Schwester bekam Klavierunterricht. Ihre Lehrerin, ein Fräulein Meise, wohnte etwas fünfzehn Fußminuten von uns entfernt. Als einmal gegen Ende des Unterrichts ein heftiges Gewitter und ich meine Schwester bereits unterwegs und womöglich bereits vom Blitz getroffen vermutete, wollte ich sofort hinaus in das Unwetter und sie suchen. Meine Mutter hatte größte Schwierigkeiten, mich zurückzuhalten. Natürlich war meine Schwester vernünftig genug gewesen, das Ende des Gewitters abzuwarten.

      Von da an begleitete ich sie zum Unterricht, setzte mich bei Fräulein Meise aufs Sofa und wartete ab, bis die Stunde vorüber war. Ich spürte, dass die Klavierlehrerin meine Anwesenheit als störend empfand. Und nach zwei, drei Malen musste ich unten vor der Haustür warten. Auch meine Schwester war wütend. Auf dem Heimweg rannte sie mit eiligen Schritten vor mir her und sprach den Rest des Tages kein Wort mehr mit mir. Mir aber war das egal. Richtig erleichtert war ich immer erst, wenn abends alle friedlich in ihren Betten lagen. Jetzt konnte nichts Schlimmes mehr geschehen.

      5.

      Oftmals habe ich mich gefragt, warum ich solch ein Angstkind geworden bin. Meine Schwestern waren doch ganz anders, und all die anderen Kinder, mit denen ich zur Schule ging oder auf der Straße spielte, erschienen mir sorglos und unbekümmert. Inzwischen glaube ich, dass es mit der Atmosphäre zu tun hatte, die in unserem Elternhaus herrschte.

      Damals konnte ich für das, was ich spürte, keine Worte finden. Heute würde ich die Stimmung als bedrückend, verunsichernd, instabil bezeichnen. Wir waren keine friedliche Familie. Mein Vater war sehr spät aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er hatte sein Blechgeschirr mitgebracht, aus dem er jahrelang seine Mahlzeiten gegessen hatte. In der Wade seines echten Beins war eine fast kreisrunde Vertiefung. Eine Kugel hatte ihn getroffen. Ich habe meinen Vater immer als einen erschöpften, wenig stabilen Mann wahrgenommen.

      Heute ist mir klar, dass er, wie wohl viele Männer seiner Generation, die den Zweiten Weltkrieg mitgemacht hatten, tief traumatisiert war. Er war doch noch so jung, gerade Anfang zwanzig, als er an die Front musste. Ein Alter, in dem meine Söhne das Leben mit all den Möglichkeiten, die sie hatten, intensiv auskosteten. Sie unternahmen Reisen und trieben Sport, Mädchen kamen und gingen, sie kauften die ersten Autos, zogen in Wohngemeinschaften, sie lernten, studierten, jobbten, feierten. Nie hätte ich mir vorstellen können, sie in einen Krieg ziehen zu lassen.

      Mit uns Kindern hat mein Vater nie vom Krieg gesprochen. Erst waren wir zu klein, später, als ich alt genug war und vieles gern gewusst hätte, war er schon tot. Auch meine Mutter hat den Krieg in seiner ganzen Grausamkeit erlebt. Auch sie war so jung, als sie als DRK-Schwester nach Polen und Russland ging, um in den Lazaretten die verwundeten Soldaten zu pflegen. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater erschien meine Mutter mir stets stark und gesund. Auch mit ihr habe ich nie über ihre Kriegserlebnisse gesprochen, obwohl sie meinen Vater um mehr als dreißig Jahre überlebte. Heute bedauere ich das sehr.

      Mein Vater war in ständiger Sorge um uns, so vieles war „gefährlich“. Beispielsweise durften wir keine Nüsse essen, weil man sich an ihnen ja verschlucken und ersticken konnte. Später, als Mutter, ertappte ich mich selbst dabei, wie ich meinen Söhnen nicht gut beim Nüsse essen zusehen konnte. Und meine Enkel würden ebenfalls keine Nüsse von mir bekommen, auch keine Äpfel oder Möhren, an denen sie sich verschlucken könnten. Wenn ich Kuchen für sie backe, verwende ich nur geriebene Nüsse.

      Gefährlich war es auch, direkt nach dem Verzehr von Obst oder gar Gurkensalat etwas zu trinken. Es war eine Wartezeit von zwei Stunden vorgeschrieben. Ich erinnere mich, dass ich das eines Tages einfach vergessen hatte und nach dem Gurkensalat ein Glas Saft trank. Kaum war mir diese gefährliche Unachtsamkeit bewusst geworden, wurde mir furchtbar schlecht und ich musste mich übergeben.

      Niemals durften wir mit vollem Bauch in die Badewanne steigen. Wir durften nicht auf der linken Seite schlafen, weil dann das Herz eingedrückt wurde. Wir durften den Finger nicht in den Bauchnabel legen – der Leib würde umgehend bersten. Noch heute kann ich keine Berührung an meinem Bauchnabel ertragen.

      Später, als wir zur Schule gingen, kamen neue Warnungen und Bedrohungsszenarien hinzu. Bei all meiner Angst um die Familie hatte ich damals, wenn es um mich ging, kaum Angst. Ich war neugierig und unternehmungslustig. So gerne wollte ich zum Beispiel allein mit der Straßenbahn in die Stadt fahren. Aber mein Vater verbot es. Ein Junge aus der Nachbarschaft meiner Großeltern war unter die Straßenbahn geraten und gestorben. Wollte ich, fragte mein Vater, dass es mir ebenso erging?

      Ich träumte immer von einem Haustier, einem kleinen, harmlosen Hamster. Doch daran war gar nicht zu denken. Tiere übertrugen schlimme Krankheiten, sie haarten und machten Dreck. Ich habe mir dennoch von meinem ersparten Taschengeld einen Hamster gekauft. Den Käfig spendierte mir eine freundliche Nachbarin, für die ich oft kleine Besorgungen erledigte. Mein Vater hat das Tier tatsächlich nie bemerkt. Leider verendete es sehr bald elendig unter unserem Wohnzimmersofa.

      Meine Mutter hielt heimlich eine Schildkröte, winters im Keller, im Sommer im Garten; Schildkröten sollen ja bekanntlich Glück bringen. Irgendwann hat sich unsere auf Wanderschaft begeben und ward nie mehr gesehen.

      Als meine Schwestern und ich begannen, uns für Jungen zu interessieren, wurde das Leben meiner Vaters noch anstrengender. Ständig klingelte das Telefon - „Verehrer“, wie er sie zu nennen pflegte, wollten sich mit uns verabreden. Natürlich waren Treffen strikt untersagt und natürlich haben wir uns über die Verbote hinweggesetzt. Doch mein Vater war ein gewiefter Detektiv. Oft genug habe ich es erlebt, dass er bei irgendwelchen Verabredungen im Park plötzlich hinter der nächsten Wegbiegung auftauchte und mich nach Hause bugsierte. Jungen, die das Pech hatten, ihn statt mich am Telefon zu haben, mussten sich sagen lassen, dass sie erst einmal etwas Vernünftiges studieren sollten, ehe sie sich wieder meldeten.

      Auch wenn ich damals oft furchtbar wütend auf ihn war, kann ich heute seine Sorgen verstehen. Und viele Vorkommnisse amüsieren mich nur noch. Er war ja nicht nur ein ängstlicher, sondern auch ein liebevoller, verantwortungsbewusste und guter Vater. Vor über vier Jahrzehnten gingen viele Eltern noch davon aus, dass Töchter irgendwann heirateten, somit versorgt waren und deshalb für sie eine vernünftige Ausbildung nicht so wichtig war. Da sparte man lieber schon frühzeitig für eine ordentliche Aussteuer. Obwohl wir sehr hübsche Mädchen waren und eine Verheiratung sicherlich kein sonderliches Problem gewesen wäre, legte unser Vater größten Wert darauf, dass wir lateinische Vokabeln und Grammatik paukten, dass wir unsere Hausaufgaben gewissenhaft erledigten und gute Noten nach Hause brachten. Er wollte für uns eine solide Schul- und Berufsausbildung. Diese Einstellung macht mich heute noch stolz auf ihn. Schade, dass er nicht mehr miterleben durfte, wie all seine Ermahnungen letztlich doch gefruchtet haben. Wir haben alle, wie man so schön sagt, ordentliche Berufe.

      Anders als meine Mutter hat unser Vater uns nie geschlagen – bis auf das einzige Mal, als er mir eine Backpfeife verpasste. Damals war ich vierzehn oder fünfzehn, und trotz seines strikten Verbots hatte ich mir ein blondes Kunsthaarteil gekauft, einen dicken Zopf, den ich in mein Haar einarbeiten wollte. Als mein Vater ihn mittags neben meinem Suppenteller liegen sah, rutschte ihm die Hand aus. Hinterher hat er sich dafür entschuldigt.

      Manchmal hat mir mein Vater Dinge gesagt, an denen ich noch heute zu knabbern habe und die wie ein Damoklesschwert über mir zu schweben scheinen. Ich war von Geburt an ein sehr zartes Kind, ganz im Unterschied zu meinen Schwestern. In den Jahren nach dem Krieg hatten Babys und Kleinkinder pummelig zu sein, das galt als Zeichen von Gesundheit. Sollte man von einer Krankheit heimgesucht werden, hatte man „etwas zuzusetzen“, wie es hieß. Aber ich wollte einfach nicht zunehmen, an mich „kam nichts dran“. Bis heute bin ich schlank. Zu allem Überfluss war ich

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