Sie kommen nachts. Jay Baldwyn

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Sie kommen nachts - Jay Baldwyn

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auf den Quadratkilometer kamen. Da viele Reisende dort Zwischenstopp machten und übernachteten, gab es auch einige Hotels, die allerdings keinen guten Ruf genossen, wie Ananda wusste. So bekam man für den Preis eines schönen Doppelzimmers in Leh hier nur eine unsaubere, dunkle Box.

      Aber sollte sie sich das wirklich antun, sofort wieder den langen Rückweg anzutreten, um morgen oder an einem der nächsten Tage wiederzukommen, dachte sie. Vielleicht fand sie ja doch eine halbwegs saubere Unterkunft. Der Inhaber des Restaurants empfahl ihr dann das Hotel Siachen, das kürzlich renoviert worden war.

      Der dreistöckige Bau mit Laubengängen stellte sich weniger schlimm als erwartet heraus. Das Zimmer war einfach, zweckmäßig und relativ sauber. In der Anlage gab es sogar ein Geschäftszentrum mit Internetzugang und kostenlosem Highspeed-WLAN, und man konnte ohne zusätzliche Gebühr parken.

      Als Erstes rief Ananda ihre Brüder an, die sich bestimmt schon Sorgen machten. Sie hoffte, Kumar Sangpo ans Telefon zu bekommen, da er leichter zu händeln war und alles so nahm wie es kam. Doch es meldete sich sein älterer Bruder Pouya Gönpo, der gelegentlich etwas oberlehrerhaft agierte.

      »Na endlich, wo steckst du eigentlich?«, sagte er prompt.

      »In Kargil, es ließ sich nicht vermeiden, aber ich habe gefunden, was ich suchte. Jetzt weiß ich, wo das Ehepaar wohnt, das vorgibt, die Eltern von Irshalu zu sein.«

      »Hast du völlig den Verstand verloren? Da kommt ein fremdes Kind in den Laden, und du bildest dir ein, es wäre mein verschwundener Neffe. Inzwischen sind sieben Jahre vergangen. Kinder verändern sich in dieser Zeit gewaltig.«

      »Ich weiß, aber es war Irshalu, glaube mir.«

      »Und was willst du jetzt unternehmen?«

      »Ich werde versuchen, ihn allein zu sprechen.«

      »Weißt du, worauf du dich da einlässt? Die Stadt ist streng muslimisch. Es würde mich nicht wundern, wenn dort auf Kindesraub die Todesstrafe stünde.«

      Ananda gab einen verächtlichen Ton von sich.

      »Noch will ich ihn ja nicht mitnehmen. Ich muss ihn sprechen, sehen, ob er das Zeichen hat, und dann erst mit den Leuten reden. Jedenfalls werde ich nicht vor morgen Abend zurücksein. Die kleine Auszeit gönnt ihr mir doch, oder? Schließlich hatte ich in diesem Jahr noch keinen Urlaub.«

      »Wir vielleicht?«, fragte Pouya trocken. »Wenn die Saison vorbei ist, haben wir genug Zeit dafür.«

      »So lange kann ich aber nicht warten. Also, kommt ihr klar, oder nicht? Andernfalls müsste ich heute noch zurückfahren …«

      »Blödsinn, dreizehn Stunden am Steuer hält der stärkste Ochse nicht aus. Viel Glück, und sei bitte vorsichtig.«

      Am nächsten Morgen frühstückte Ananda Tsomo rechtzeitig, suchte dann im Internet eine Schule, die nahe der Baroo Khanka Road lag, und wurde sofort fündig. Es war die Munshi Habibullah Mission School, die sogar einen Schulbus unterhielt. Ananda war überrascht, dass der Unterricht erst um zehn Uhr begann. Sie konnte also in Ruhe auschecken und sich dann auf den Weg machen.

      Mit klopfendem Herzen stand sie später vor dem Flachbau, in den nach und nach schwatzende und lachende Kinder gingen. Der Junge, den sie für ihren Sohn hielt, kam zu Fuß und in Begleitung eines Freundes oder Klassenkameraden.

      »Assalamo aleikum! – Hallo«, sprach ihn Ananda auf Urdu an. »Du hast gestern bei mir im Laden ein schönes altes Automodell mit Spieluhr gekauft. Du magst wohl Autos, wie die meisten Jungen? Gefällt dir das Spielzeug immer noch so gut?«

      »Ja, aber das war in Leh«, antwortete der hübsche, dunkelhaarige Junge. »Sind Sie uns etwa bis hierher gefolgt?«

      »Ich geh dann schon mal vor«, sagte der etwas dickere Schulkamerad, der an der Unterhaltung nicht sonderlich interessiert zu sein schien.

      »Warte doch, ich komme gleich mit«, aber der Junge war schon vorgelaufen, um dann stehen zu bleiben.

      »Ist das dein Freund, Irshalu?«

      »Warum sagst du Irshalu zu mir? Ich heiße Diyo Mani. Und Mani bedeutet “Das Wunschjuwel”.«

      »Ich kann mir denken, dass die Leute, bei denen du jetzt lebst, sich immer einen Jungen wie dich gewünscht haben, aber in Wahrheit bin ich deine Mutter, und du heißt Irshalu.«

      »Was ist denn jetzt?«, quengelte der andere Junge, der wieder näher gekommen war.

      »Sie sagt, sie ist meine Mutter. Sie muss verrückt sein.«

      »Dann sollten wir einen von den Lehrern holen oder gleich die Polizei«, sagte der Junge.

      »Nein, ich bin nicht verrückt. Du hast doch einen kleinen, dunklen Fleck auf deinem Schulterblatt, ein Muttermal, nicht wahr?«

      Diyo überlegte einen Moment und griff automatisch mit seiner kleinen Hand über die Schulter auf seinen Rücken.

      »Ja, den habe ich. Maa sagt, das haben andere Kinder auch.«

      »Siehst du, du benutzt den Begriff für Mutter in Hindi, im muslimischen Indien heißt es doch bestimmt anders …«

      Diyo zuckte mit den Schultern. »Ich muss jetzt rein, damit ich nicht zu spät komme …«

      »Kannst du dich denn gar nicht an mich erinnern? Oder an deinen Vater, Bhavin Gyatso, oder deine Onkel Kumar Sangpo und Pouya Gönpo?«

      Diyo verneinte, und Ananda war den Tränen nahe.

      »Du warst damals drei Jahre alt, als du plötzlich verschwunden bist. Ich habe dich überall gesucht und Plakate mit deinem Foto aufgehängt. Haben sie dich gefunden?«

      »Ich muss jetzt wirklich gehen …«

      »Bleib doch noch einen Moment. Ich hatte solche Sehnsucht nach dir. Du musst dich doch an unser schönes Haus in Leh erinnern. An dein Zimmer mit blauen Wänden und einer Lampe, die wie ein Mond aussieht.«

      »Wir kennen Sie nicht. Lassen Sie uns in Ruhe, sonst holen wir wirklich einen Lehrer«, mischte sich der andere Junge erneut ein. »Da kann ja jeder kommen und behaupten, die Mutter eines Kindes zu sein, indem er eine abenteuerliche Geschichte auftischt. Also hauen Sie ab.«

      »Ja, ich gehe, aber ich komme wieder, um dich von diesen Leuten wegzuholen«, sagte Ananda, ohne den anderen Jungen auch nur eines Blickes zu würdigen. »Du gehörst doch zu mir. Ich habe nichts anderes, für das es sich zu leben lohnt.« Jetzt weinte sie wirklich.

      »Komm, die spinnt. Die hat doch eine Schraube locker. Am besten beachtest du sie gar nicht.« Diyos Freund zog ihn mit sich, indem er Ananda noch einmal feindselig ansah und sie dann mit Verachtung zu strafen.

      Diyo drehte sich jedoch in der Eingangstür der Schule um und warf Ananda einen unergründlichen Blick zu. Dann wurde er vom Strom der anderen Kinder mitgerissen.

      2.

      Ananda Tsomo konnte Tag und Nacht keine Ruhe finden. Sie quälte der Gedanke, ihr Kind bei fremden Leuten zu wissen, denn sie war sich sicher, dass Diyo in Wahrheit Irshalu war, auch wenn er scheinbar keine Erinnerung daran hatte.

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