Tief Verborgen. Pia Schenk
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Es bereitete mir große Mühe, meine Umgebung zu fokussieren. Die Augen geschlossen zu halten, verminderte die Anstrengung. Ich war einfach noch nicht soweit, ich musste noch weiter im Nichts ruhen.
Die Zeit hatte keine Bedeutung für mich. Das Schweben in einer ungewissen Ebene ist frei von solchen Zwängen. Es ist, als ob sich der Körper nicht für die zu gehende Richtung entscheiden kann und lieber in der Anonymität verbleibt. Schlaf- und Wachzustände wechselten einander ab, wie ein kontinuierlicher Programmwechsel.
Allmählich erholten sich meine Sinne und mein Kopf begann zu wollen. Erste Laute drangen wieder in mein Ohr und ich öffnete die Augen, um zu sehen. Das Licht war diffus, warme Abendluft strömte durch das leicht geöffnete Fenster und undefinierbare Gespräche schwangen im Zimmer. Jonah saß neben meinem Bett auf einem Sessel und schlief fest. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, die gefalteten Hände stützend unter dem Kinn und die Beine leicht angewinkelt. Das stets nach hinten gekämmte, dunkle Haar fiel unordentlich in sein Gesicht.
Ich war in meinem Zimmer am See. Hatte mein neues Projekt gefallen? Der Versuch mich des Vergangenen zu entsinnen, brachte nichts Ungewöhnliches hervor. Nach der Fahrt muss ich mich kurz hingelegt haben und jetzt schliefen wohl alle.
Meine Lippen formten seinen Namen. JONAH. Ich rief nach ihm, aber keine Stimme verließ meinen Hals, nur ein erbärmlich leises Stöhnen. Der Schlaf holte mich wieder ein.
Der Sessel war leer, die Tür geschlossen. Es war wieder Tag und die Sonne schien direkt, durch das immer noch leicht geöffnete Fenster, auf mein Bett. Ich schlug die Decke zurück und versuchte mich aufzusetzen. Ein leichtes Brummen war im Kopf verblieben und ich hatte großen Durst. Eine ungeöffnete Flasche Mineralwasser stand auf dem Tisch vor dem Fenster. Behutsam stand ich auf und ging zum Fenster, öffnete es ganz und atmete die frische Morgenluft ein. Während ich aus dem Fenster blickte, schenkte ich mir ein Glas Wasser ein.
Der See schimmerte aufgeregt und ich konnte gerade noch Patricks Segelboot unter Motor auslaufen sehen. Instinktiv rief ich ihm Worte zu, welche die Entfernung nie hätten überbrücken können. Freude durchfloss meinen ganzen Körper und ich nahm mir vor, so schnell wie möglich zum Steg zu gelangen.
Nach dem Öffnen der Tür stieg mir der Geruch von frischem Kaffee in die Nase und ich sog ihn gierig ein. Rasch die Treppe runter, dem Duft nach. In der leeren Küche angelangt, erwarteten mich ein gedeckter Frühstückstisch und eine Nachricht. Da meine Energiereserven bereits wieder erschöpft waren, setzte ich mich und begann zu lesen.
„Emma. Schön, dass du wach bist“ unterbrach mich Jonah, in den Raum eintretend. Er fasste genießerisch in mein Haar und küsste mich fest auf die Wange. Das hatte er schon als Kind immer so gemacht, er liebte mein lockiges, kupferbraun leuchtendes Haar. Sean legte sich, wie gewöhnlich, auf meine Füße und stellte sich schlafend.
„Du hast gestern in meinem Sessel geschlafen, was war eigentlich los? Ich fühle mich auch jetzt noch nicht richtig wohl.“
„Lass uns erst gemeinsam Kaffee trinken und dann reden wir.“
Stark, süß und mit viel Milch, aber vor allen Dingen musste er heiß sein, mein Kaffee.
Es war schön mit Jonah zusammen zu sein. Für ihn war ich die kleine Schwester, die er nie haben durfte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich besonders gelöst. Er verfügte über die angeborene Gabe, Menschen unmittelbar in einen angenehmen Wohlfühl-Zustand zu versetzen und konnte so den vielfältigen Lebenssituationen entspannt gegenübertreten.
„Auf Augenhöhe“ war sein Limit - nicht darüber und nicht darunter. Seinem Gegenüber kam selten der Zweifel, ob er in Wirklichkeit nicht doch anders dachte. Diese einnehmende Eigenschaft brachte ihm die Sympathien von Menschen ein, die zumeist nur dies gemeinsam hatten.
Eigentlich war alles wie immer. Der Hund lag unter dem Tisch, er saß frisch geduscht mit nassen Haaren neben mir und dennoch wurde die Idylle durch etwas getrübt. Ich verspürte so ein leicht ungutes Gefühl, was sich dann von meiner Mitte aus strebsam weiter ausbreitete. Heute Morgen konnte ich einfach keinen Frieden finden und begann nochmals, über den Ablauf des gestrigen Tages nachzudenken. Ich hatte wieder diesen Traum gehabt und war dann mit dem Auto hier hergefahren.
„Wo ist eigentlich dein Vater?”, fragte ich.
„Er ist mit einem Freund zu einer Tagestour aufgebrochen.“
„… einem Freund? Was für ein Freund? Ich habe hier noch nie einen Freund gesehen. Weder von dir noch von deinem Vater. Also werde ich später das Vergnügen haben? Und dann noch eine Tagestour? Entschuldige Jonah, aber wir hatten uns doch ausdrücklich für dieses Wochenende verabredet.“
Die Gewissheit traf mich wie Blitz. Dieser helle Anzug, diese Haltung - hatten so etwas Exotisches. Koloniales Flair. Vielleicht Afrika? Ein Foto, ich glaubte mich zu erinnern, Personen mit diesem Kleidungsstil auf Saras Fotos bereits gesehen zu haben.
„Bitte lies doch kurz die Nachricht zu Ende, Emma, sie ist von Vater.“
Er schrieb mir, dass es ihm leidtäte, dass wir unser Gespräch verschieben müssten, da er sich um einen alten Geschäftsfreund zu kümmern hatte.
Jonah ließ sich Zeit, frühstückte genüsslich. Er wusste, dass ich mich über kurz oder lang wieder erinnern würde.
Warum waren wir alle im Brunnenzimmer gewesen, wer waren diese Männer und weshalb all diese Waffen und Bedrohung? Die Erinnerungen begannen sich zusammenzusetzen und das Geschehene spulte sich wieder vor meinem inneren Auge ab. Mit einem Ruck stand ich auf und lenkte meine Schritte zum Wohnzimmer. Eine der Wände war von der Decke bis zum Boden ausgefüllt mit Büchern, Bildbänden und Zeitschriften. Vielleicht würde ich wirklich in einem von Sarahs zahlreichen Fotoalben einen Hinweis finden? Eine andere Chance gab es nicht.
Die Fotosammlung, die Arbeiten Sarahs waren in den ganz oben liegenden Fächern, der imposanten Bücherwand im Wohnbereich, eingeordnet. Nun mehr als zwanzig Jahre alt wurden sie, außer von mir, nur selten betrachtet. Eine seitlich bewegliche Leiter auf Rollen diente der relativ bequemen Büchersuche, fast wie in einer richtigen Bibliothek. Ich musste weit hochsteigen, da die erste Regalfläche in etwa fünf Meter Höhe lag. Da ich nicht genau wusste, in welchem Band ich fündig werden würde, begann ich einfach, einen nach dem anderen nach unten zu tragen. Aber es waren einfach zu viele Bücher, Alben, gebundene Sammlungen, Collagen und zu viele Stufen, hoch und runter. Schließlich blieb ich einfach oben stehen und begann, das in der Nähe stehende Sofa zu bewerfen. Jonah war mir gefolgt und schien ungehalten.
„Emma, was soll das, was willst du mit Mutters Arbeiten?“
„Ich habe den Mann schon einmal gesehen, den alten Herrn auf dem Stuhl. Und ich denke, ihn auf einem Foto gesehen zu haben.“
„Emma, jetzt komme erst mal runter und beruhige dich!“ Ich folgte seiner Aufforderung und wurde mit einer warmen Umarmung belohnt.
„Am besten wir machen das jetzt so, ich steige nach oben, reiche dir, was du brauchst und du legst alles auf den Tisch.“
Nach und nach, Buch für Buch leerten wir den oberen Bereich. Und dann, nur einen belanglos winzigen Augenblick lang verspürte ich Misstrauen. Ein kaltes, stechendes Gefühl, welches direkt zum Herzen