Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz
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Ihr ***
11.11.1989
Mein Herr, seit dem 9.11., abends oder sonstwann, sind die Grenzen zur Bundesrepublik und nach West-Berlin weit offen. Ihr Korrespondent kann dem Menschenstrom nur staunend zusehen, der sich in die Weststadt ergießt. Gestern noch verhasste Zöllner und Grenzpolizisten nehmen verblüfft und besänftigt Blumensträuße entgegen, von der Entwicklung überrollt, und winken die Menschenmassen gleichmütig durch rasch erweiterte Maueröffnungen ins "Freie". Jedermann kann sich beim "Volkspolizeikreisamt" einen Stempel in den Reisepass oder behelfsweise in den Personalausweis drücken lassen; das so gezeichnete Dokument berechtigt ihn zum Verlassen des Landes. Was bis gestern noch mit Gefängnis und gesellschaftlicher Ächtung bestraft oder per Todesschuss ein für alle Mal erledigt wurde, ist heute kein Staatsverbrechen mehr, sondern wird ermunternd gefördert. Punktum. - Sie haben sicherlich daheim am Fernseher erlebt, wie es aussieht, wenn die Geschichte einen ihrer skurrilen Einfälle praktiziert und brauchen keine Detailbeschreibungen meinerseits. Immerhin hielt es uns, also die schwer arbeitenden Korrespondenten und Bildberichter, nicht im Grand Hotel; wir zogen hinaus ins freie Leben sozusagen, das heißt, ins Berliner Leben.
Berlin ist eine Stadt, die aus vielen Einzelstädten häufig gegen deren Willen wie ein Flickenteppich zusammengesetzt wurde. Was die Stadt zusammenhält, ist der berlinische Geist der Skepsis, der Verneinung und der Frechheit, das Mundwerk, die Erklärung, Berliner zu sein. "Ich bin ein Berliner", das kann jeder Narr sagen, er wird sogleich von den Berlinern unter die Berliner eingemeindet, ist damit freilich noch lange nicht das, was die Berliner unter einem Berliner verstehen, es sei denn, jener bedient sich bewusst des berlinischen Gestus, was nicht jedem gelingt und auch nicht so leicht ist, wie es sich anhört. Sie können gut und unbelästigt in einer anderen deutschen Stadt, sagen wir in Frankfurt, leben, sich zehn oder zwanzig Jahre lang brav betragen, ohne die geringste Aussicht, jemals ein Frankfurter zu werden, oder ein Mainzer, wie Sie wollen. Man wird Ihnen unter Umständen sogar noch Kleidervorschriften machen. Das ist hier ganz anders.
Berlin war eine Zuzugsstadt; einen Berliner, dessen Großeltern bereits in Berlin geboren wurden, werden Sie nur mit Mühe finden. Es bleibt also beim Gehabe, was aus Zuzüglern oder Reisenden Berliner macht. Dieser Umstand äußert sich gelegentlich und vorläufig verbal. Da heißt es von einem Asiaten, "der is Chinese", zum Beispiel, und Chinese bleibt er auch dann noch, wenn er zwanzig Jahre lang im selben Haus gelebt und in guter Nachbarschaft ganz angenehm gelebt hat.
Der Berliner ist im Grunde konservativ. Tucholsky wie einige andere haben sich über den Charakter des Berliners getäuscht und folgerichtig nicht verstanden, wie ihnen geschah, als die besungene und gepriesene Herz-Schnauze-Kombination keine sanften Heinriche aus den Berlinern machte. Goethe war da weiter. Ihm waren sie ein raues Geschlecht, und er hat sich eher vor dem Berliner gefürchtet, als dass er ihn liebte.
Hier ist selbstverständlich nicht vom Snob des Westens die Rede, der ein Neutrum ist, falls er weiblich, und ein Affe, wenn er zum männlichen Geschlecht gezählt wird. Was auf dem Ku-Damm als mondän und weltoffen gilt, gehört in die Kategorie des allgemeinen wie intellektuellen Zigeunertums, aber das hat mit dem Berliner nicht das Mindeste zu tun. Nun hat sich das literarische Berlin vorwiegend im Westen aufgehalten und gerudelt; daher kommen die Fehleinschätzungen des Grundcharakters der Berliner. Dies und manches andere Missverständnis macht diese Stadt zum Magneten für Hinz und Kunz. Also auch für Ihren Korrespondenten. Westberlin, wie es der Zufall von Ostberlin trennte, steht auf größerer Fläche, verweist auf einige Straßen und Gebäude, die für den Berliner ganz ohne Interesse sind. Der Ku-Damm blieb dem richtigen Berliner eine weit abgelegene Gegend, reserviert für den abenteuernden Ostelbier, falls er nicht die Friedrichstraße als brandenburgischer und von urwüchsigerer Erotik vorzog, oder die "Linden", die Meile der Garde wie der Regierung, und das Schloss gehörte sowieso dem Kaiser. Dennoch hat der ältere Berliner die wilhelminische Ära eher als eine Glanz- und Glückszeit des Deutschen Reiches empfunden; das drückt sich manchmal noch in wehmutsvollen Erinnerungen der Alten aus: "Kaisers Zeiten" oder "wie bei Kaisers". Sie können diesem Urteil vertrauen, die klassenkämpferisch orientierte Berichterstattung befasst sich nur ungern mit dem Kaiser Wilhelm und qualifiziert den Typus Berliner in der Regel als Untertan Heßling, nach Heinrich Mann, und Pfahlbürger ab.
Der Ostteil war übrigens nach der gewaltsamen Teilung der volkreichere, berlinerischere, wenn Sie wollen. Hier wohnte noch dicht bei dicht und nach Vätersitte, wer der Wärme und Solidarität nicht entraten mochte. Hier gedieh noch der Großstadtwitz wie eh und je: Eine Dame hält dem Fahrer eines Busses mit fragendem Blick ihren Fahrschein hin. Watt is, sagt der, soll ick rinbeißen? Nicht Jedermanns Geschmack? Nein. Sie sehen, es gibt Traditionen, wie sie sich bissiger nicht denken lassen. Vielfältig ist daher auch das Schichtenspektrum der Bewohner des Ostteiles.
Hier nämlich fanden zahlreich zugewanderte Dissidenten Duldung und Quartier wie nirgendwo anders; alleinerziehende Emanzen erkoren sich die Wahlgroßmutter für ihre anti-autoritär erzogenen Gören, wenn ihnen die eigene Mama in Kötzschenbroda entnervt den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Hier saß man in Wahlfamilien in den heruntergekommenen Küchen zusammen, soff billigen Rotwein aus Henkeltassen und Bier aus der "Pulle", brühte pausenlos Kaffee, paffte Zigaretten und redete, redete, man lebte. Alle Arten Sonderlinge, von sanft bis streitbar, ließen die Altsassen, Kleinstrentner, Gescheiterte, im Suff Verkommene gewähren und nach ihrer jeweils eigenen verschrobenen Fasson selig werden, wofür sich der Ausdruck: Stadt-Kultur bei den feinen Leuten des Feuilletons der Zeitung und der Medien eingebürgert hat. Hinzukommen werden die Amerikanismen, die "Streetworker" und die himmlischen Engelschöre helferisch gestimmter Sozialarbeiter, um dem Strich wie den Fixern unter die Arme zu greifen, sagen wir mal, das internationale Niveau.
Der Berliner ist hingegen nur mürrisch-duldsam, auch wenn er in der Regel genau erkennt, was da läuft, und weil er weiß: "dett det imma so jewesen und nich zu ändan is". Da sich alle diese Zugereisten zum Berliner ernannt hatten, wurden sie von den Alteingesessenen aufgenommen, wie schrullig sie auch auftraten. Dorthin also lenkten wir unsere Schritte, nämlich in eine Kneipe des Prenzlauer Berg, um aus den Quellen zu schöpfen, aus dem Born der Volksweisheit. Wir entdeckten einen älteren Mann, der ruhevoll sein Bier trank, gelegentlich eine Bemerkung zur politischen Lage einstreute und sich im Übrigen vertraulich mit dem Kneipier über völlig nebensächliche Dinge unterhielt, was in dieser Stunde immerhin verwunderlich war. Auf unsere Frage, ob er denn auch schon "drüben" gewesen sei, gab er zur Antwort: "Nee, wozu? Glooben Sie, dett die die Maua wieda zumachen könn?" Wir, Ihr Korrespondent und ein paar andere Meinungsforscher räumten ein, dass dieser Fall höchst unwahrscheinlich sei. "Morjen is ooch noch Zeit", sagte unser Informant tröstend. "Aba bei euch isset watt andert, ihr seid ooch zu jung, um det Berlin von früha zu kenn." Es stellte sich heraus, dass er als Rentner ohnehin längst in den Genuss des Verwandtenbesuches gekommen war und gar keine Eile nötig hatte. In der Tat aber traf er mit dem Hinweis auf unterschiedliche Generationserfahrung ins Schwarze.
Pflichtgemäß fuhren wir in die Renommierzone des Westens, dem Kurfürstendamm, dort sollte so etwas wie ein Volksfest ablaufen. Da Ihnen diese Fete per Übertragung frei Haus geliefert wurde, zusammen mit der von Geistesstärke und Gemütstiefe zeugenden Bemerkung des OB Momper: "Wir sind das glücklichste Volk der Welt", womit sich dieser famose Herr übrigens auf staatsmännisch glattem Parkett bewegt, da der Führer Adolf Hitler die Österreicher anlässlich des Anschlusses ebenfalls als ein glückliches Volk bezeichnet hat, sollte