Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz

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Briefe aus dem Grand Hotel - Helmut H. Schulz

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Volkskongresse aus jener Zeit. Auf das ganze Deutschland Anspruch zu erheben, dafür gab es etliche gute Gründe historischer, sozialer und politischer Art. War die DDR also kein Nationalstaat - und ein solcher hätte vorerst selbstredend als sozialistischer Staat von Moskaus Gnaden gedacht werden müssen -, so konnte er sich noch weniger auf ethnische oder rassische Grundlagen berufen. Mecklenburger, Preußen, Pommern und Sachsen und Thüringer bildeten zusammen mit dem Heer der Flüchtlinge aus dem deutschen Osten im Laufe der Entwicklung wohl einen bestimmten staatlichen Zusammenhang, aber sie waren nicht das deutsche Volk.

      Wir müssen weit zurückgreifen, wenn wir die Ursprünge der deutschen Teilung begreifen und mit den heutigen Zuständen verbinden wollen. Mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland beginnt das Dilemma. Einen Volksstaat auf revolutionärer Grundlage zu bilden, dessen Angehörige auf Verfassung und Gesellschaftsvertrag, wenn Sie so wollen, vereidigt werden sollten, eben das Staatsvolk, dieser Gedanke konnte nie verwirklicht werden, falls ihn überhaupt einer gedacht haben sollte, und falls die Nachkriegspolitik, soweit sie in deutschen Händen lag, nicht ein Durchwursteln, ein Anpassen und Aufarbeiten war. Die zwei deutschen Staaten stellten einen bloßen Kompromiss unter den Siegern dar, unter Zustimmung und in Gemeinschaft mit Stalinisten und stalinistisch eingestimmten deutschen und jüdischen Emigranten plus den Glaubensdemokraten, die im parlamentarisch regierten Mehrparteienstaat das Non plus ultra der Regierungskunst und im Liberalismus die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit erblickten. Zwischen diesen Extremen und deren Schattierungen bewegte sich die Volksmasse, ohne eine Ahnung zu haben, was mit ihr demnächst geschehen würde, naturgemäß an seinem nächsten Schicksal interessiert und dem Grundsatz lebend: Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!

      Der wirkliche Volksstaat sollte ein Traum bleiben, ohne ein zustimmendes Volk war er eben nicht zu machen. Daher mussten die Ostdeutschen zu dauernder Demonstration ihres Staatsbewusstseins angehalten werden. Selbst Leute, denen ausnahmsweise die Besuchsreise gestattet wurde, mussten sich darüber befragen lassen, ob ihr Auftreten auch jederzeit dem eines Bürgers der DDR würdig gewesen sei, als ob es eine Auszeichnung gewesen wäre, ihr anzugehören. Der Staat hatte in seinen Flegeljahren sogar einen Nationaldichter, Becher, zu einer eigenen Hymne veranlassen können.

      Die ganze Staatsaffäre reicht bis weit ins vergangene Jahrhundert zurück, als sich die proletarische Klasse ihre Befreiung nur als gesamtnationale und revolutionäre Tat vorstellen konnte. Paradoxerweise fällt die Formierung der Sozialdemokratie mit dem Aufstieg des wilhelminischen Kaiserreiches zusammen, als ob der Nationalstaat den marxistischen Internationalismus revisionieren wollte oder musste. Auch aus wirtschaftspolitischen Gründen hätte das Volk der DDR ein zu heroischen Leistungen und zur Hinnahme von Mängeln befähigtes Staatsvolk sein müssen, aber Zulauf hatte die junge DDR vor allem unter zwei Aspekten:

      Ein Staat der in weiter Zukunft - etwa um das Jahr 1990 - Freien und Gleichen wäre zu begründen; jeder sollte dann im Genuss der selben Rechte und Pflichten sein. Dies war unmittelbar nach dem Zusammenbruch eine ungeheuer große Verlockung, ein geistiges wie politisches Abenteuer, die unser deutsches Volk mehr als andere Völker stets bereit ist einzugehen, mögen auch alle geschichtlichen Erfahrungen dagegenstehen, und wenn alle Klugscheißer zur praktischen Vernunft raten.

      Der zweite Gesichtspunkt bestand in einem großen Komplex, dem Antifaschismus der unterschiedlichsten Prägung. Das - Nie wieder! oder das - Wenigstens nicht gleich! beherrschte das öffentliche Denken namentlich unter den Angehörigen der jungen Generation, die den Krieg noch in seiner härtesten Form kennengelernt hatten, und die ihren Glauben an Hitler, an die deutsche Sendung mit Gefangenschaft, mit Krankheit und Verarmung bezahlen mussten. Sehen Sie sich um, mein werter Herr Verleger! Sie werden in Ihrem Bekanntenkreis einige typische Vertreter dieser Schicht treffen, und zwar in allen Lagern. Ein gut Teil der uns heute, Ihnen wie mir, so unverständlichen Akte des Byzantinismus, der Unterwerfung unter die Sieger und der öffentlichen Selbstkritik, der Denunziation und der Mimikry, der Verbiegungen und Verbeugungen geht mit Sicherheit auf den Komplex der Verpflichtung zurück, gegenüber der eigenen Geschichte etwas gut machen zu müssen. Und dieses deutsche Volk ist sicherlich wie kein zweites zur kollektiven Selbstreinigung bereit gewesen, entgegen allem Zweckgerede der Altemigranten, die nicht genug bekommen können an Sühne und deren Rachegelüste unbefriedigt geblieben sind.

      Auf eines können Sie sich immer verlassen: dieses Volk will es stets besonders gut machen, und so wird auch die jetzt fällige Phase der Bestrafung, Entsühnung und Belohnung für wirkliche oder eingebildete Standhaftigkeit wie für den bezahlten Verrat eine unmäßig große Dimension bekommen, wenn nicht alles täuscht, und wenn es das ostdeutsche Volk nicht tatsächlich fertig bringt, verspätet noch Staatsvolk zu werden, das heißt, politisch handeln lernt.

      Irgendwo auf dem Wege in die Utopie geriet der Staat dann allerdings in die Stagnation, verlor seine Ziele aus den Augen oder reduzierte sie auf wechselnde Objekte, versachlichte seine Politik, in der verzweifelten Hoffnung, endlich aus den ökonomischen Zwängen herauszukommen. Eskalierender Altersstarrsinn und störrischer Machtwahn, so stellt sich die Führungsclique dem Beobachter nicht erst seit heute dar. Hinzu kam die Unverhältnismäßigkeit der Mittel im Kampf gegen Staatsfeinde und Dissidenten, bei Korrumpierung großer Teile des als dienend gedachten Apparates. Die Dissidenten stellen naturgemäß den kleinsten aktiven Teil der Bürgerrechtler, Dissidenz setzt die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft voraus, aus der man sich löst. Damit hat das Volk aber nichts zu tun. Als Gruppe sind Dissidenten auch nicht zu beschreiben, da sie sich regelmäßig bekämpfen. Sie sind bloß dissident, das ist alles. Diese Männer und Frauen wurden geduldet, aber kaum verstanden, wie ich Ihnen schon mit Blick auf den Stadtbezirk Prenzlauer Berg beschrieben habe. Nachsichtige Duldung aber heißt noch lange nicht, dass man ihnen auch die Fähigkeit zur politischen Führung zutraut, eher das Gegenteil ist der Fall.

      Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ob sich die deutsche Einheit am Himmel Europas abzeichnet; bedenken Sie eines: Der Osten hat heute keine andere Alternative als den Anschluss an das, was die Leute hier instinktiv als Deutschland bezeichnen. Sollten sie sich an Polen oder Dänemark anschließen? Zweitens handelt es sich um etwas historisch Begründetes. Der Reichsgedanke hat in den Köpfen der Sachsen und Mecklenburger, der Pommern und Thüringer in der Form des modernen Staates, eines Rechtsstaates, vielleicht unklar, aber umso sicherer Platz gehabt. Viel schwieriger scheint Ihrem Korrespondenten eine Antwort auf die Frage, wie der Westen mit dem Problem eines einzigen deutschen Staates in Europa umgehen wird, angesichts einer NATO, die alsbald ohne einen sie stabilisierenden bewaffneten Gegner an ihrer Ostgrenze leben muss, und einer Bundesregierung, deren Politik, ob sie es will oder nicht, sich notwendigerweise nach Osten zu richten hat, und zwar aus der gleichen Ursache, die der DDR zum Verhängnis wurde, der Wirtschaft, dem Handel. Die Welt beginnt, sich sichtbar zu verändern. Wir werden, soweit es die Staatsstreichregierung Modrow betrifft, mit einem kurzen Interim rechnen müssen, denke ich, deren Aufgabe bloß darin besteht, die Diktatur abzulösen und die DDR fix in einen Mehrparteienstaat umzubauen, mit einem Parlament, einer neuen oder leicht überarbeiteten Verfassung. Das wird verhältnismäßig schnell gelingen, weil es die leichtere Arbeit ist, und weil nichts ganz neu erfunden, sondern nur angepasst werden muss.

      Wir werden also demnächst viele, sehr viele politische Reden vor dem Hohen Haus Volkskammer zu hören kriegen, aber nur wenig Praktikables zur Wirtschaft. Darin nämlich liegt bei dem Interim der Staatsstreichregierung das Handicap. Und die Leute werden das Unvermögen der neuen Herren, eine auf Wachstum gerichtete Industriepolitik einzuleiten, geradezu riechen.

      Aber diese künftige DDR des kurzen Interims wird ein Staat sein, in dem jeder frei reden und schreiben kann, um alsbald zu merken, wie wenig Einfluss diese Art Freiheit im beschränkten bürgerlichen Leben auf die gesellschaftliche Entwicklung wie auf die Politik wirklich hat. Wer tatsächlich im Besitz der Macht ist, dem sind diese demokratischen Vehikel Mittel, jedoch nicht Zweck. Es werden sich die Leute frei bewegen können, bei etwas höherem Konsum und mit allen kulturzerstörerischen Nachteilen dieses Gesellschaftstyps. Mehrere Eigentumsformen werden eine kurze Frist lang vielleicht nebeneinander existieren können, aber später, als die Entwicklung behindernd, aufgegeben werden, unter großen Opfern

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