Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz
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Eine Variante kann Ihnen Ihr Korrespondent empfehlen: Sie könnten, erstens, aus Ihren Ersparnissen sechshundert Ostmark realisieren und in zweihundert Westmark umwandeln. Diese in Ostmark zurückverwandelt, hätten Sie tausend Ost zu weiterer Disposition, und so weiter. Bei einer Durchschnittsmiete von einhundertzwanzig Mark - und das wäre eine hohe Miete etwa in einem der Hochhäuser am Alex, für ein Loch am Prenzlauer Berg zahlen Sie vielleicht dreißig oder vierzig Mark - könnten Sie immerhin fast ein Jahr lang Miete zahlen. Vor zwanzig Jahren hat es hier gelegentlich der Fertigstellung der Appartmenthäuser den Vorschlag gegeben, die Mieten sozial zu staffeln, daraus wurde nie etwas. Die Wohlhabenden zahlen genau soviel wie die Armen in ihren Löchern. In der Statistik gab es freilich gar keine. Oder Sie machen es noch anders, Sie entnehmen Ihrem Konto zehntausend Ostmark, suchen sich einige arme Hunde, denen fünfhundert an den sechshundert fehlen, und machen halbe-halbe, wenn jene sich die zweiten hundert Westmark mit Ihrem Geld ertauscht haben, und so weiter, solange der Vorrat reicht. Glauben Sie nicht, dass ich Sie mit erfundenen Scherzen unterhalte.
Vor den Bankschaltern bilden sich lange Schlangen, können erhebliche Umsätze in Gewinn und Verlust gemacht werden. Vorausblickende Leute beginnen damit, ihr Geld in Warenfonds anzulegen; die Deichsel steht auf Marktwirtschaft, zunächst auf der des Kleinhandels, und Sie dürfen davon überzeugt sein, dass die Leute hier nicht viel dümmer sein werden, als die Kleinhändler in der Periode nach der Währungsreform in der vereinigten Rheinprovinz. Da fing es ähnlich an. Aber ohne Zweifel ist diese Maßnahme noch nicht das letzte Wort in Sachen Währung.
Seit der ersten Januarwoche ist der kleine Grenzverkehr normal geworden; man gewöhnt sich fast zu schnell an solche Normalität, die noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen wäre. Ab ersten Januar müssen nämlich Deutsche ihre Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt Berlin auch dann bezahlen, wenn sie bloß arme Brüder oder Schwestern sind. Viel reicher sind sie zwar jetzt auch noch nicht, aber man muss sie langsam an die neuen Verhältnisse heranführen. Schmerzliche Erfahrung muss gemacht werden. Freilich wird der Obolus einsichtigerweise vorerst in Ostgeld erhoben, die Fahrt zu rund 2,50 als Einheitstarif; früher zahlte das revolutionäre Volk der DDR nur 0,20 Ostmark als untersten Tarif auf der S-Bahn und als Einheitspreis bei U-Bahn, Straßenbahn und Bus. Es wird Ihnen vielleicht ganz lehrreich sein, zu hören, dass der S-Bahn-Tarif seit den zwanziger Jahren fast gleich geblieben war, was immer sich die Volkswirte der DDR bei diesem ökonomischen Unsinn gedacht haben mögen. Für einen Einkaufsausflug in die freie Welt, ausgestattet mit den bei der Bank rechtmäßig ertauschten und erwarteten oder erstandenen zweihundert Mark, könnte eine vierköpfige Familie runde 20 Ost an Fahrgeld loswerden. Ihr Korrespondent nimmt an, dass diese Regelung der Reiserei einen Dämpfer aufgesetzt hat. Menschenströme sieht man am 15 Januar 1990 jedenfalls nicht mehr in Westrichtung fahren oder aus ihr ankommen.
Wir müssen noch beim lieben Geld bleiben. In dieser Woche hat die Staatsstreichregierung mit einer Preisreform begonnen. Wie es heißt, war Kinderbekleidung zu hoch subventioniert, nämlich mit zwei Millionen (ich habe diese Zahl ungeprüft aus einer Zeitung übernommen, gebe sie jedoch mit Zurückhaltung weiter. Zwei Millionen hat Ihre Yacht gekostet, wie man hört, will sagen, dass wir höher hinaufgehen müssen). Diese Preisstützungen sollen nunmehr wegfallen, oder sie sind es schon. Ersatzweise bekommt die Familie, die sich Kinder leistet - hier noch vergleichsweise sehr viele, trotz liberaler Abtreibungsgesetze -, fünfundvierzig Mark monatlich. Ob das wirklich reicht, um die gestrichenen Subventionierungen auszugleichen, um die lieben Kinderchen, die unvernünftigerweise in diese neue eisigkalte Welt gesetzt wurden, zu kleiden und zu beschuhen, werden die Familienväter und vor allem die Vielzahl der alleinstehenden Mütter feststellen müssen. Ferner sind schon Mieterhöhungen angekündigt, und die niedrigen Energiepreise sollen bedeutend angehoben werden; alles das sind Kleinigkeiten gegenüber den wirklichen Problemen, die eine Umwandlung öffentlichen Besitzes in Eigentum mit sich bringen wird; es würde sich um die enteigneten Liegenschaften, Häuser und Grundstücke in und um Berlin, in ganz erheblicher, heute kaum zu schätzender Anzahl, drehen. Hier zieht ein Dauerkonflikt am Himmel der Wiedervereinigung auf; denn ohne Frage werden die Westeigentümer mit dem Hinweis, dass ihnen auch Unrecht geschah, unbarmherzig zuschlagen, schon deshalb, weil sie in vielen Jahren der Umerziehung zum Geldverdiener gelernt haben, dass Freundschaft und Bruderliebe die eine und Geschäft eine ganz andere Sache sind. Warten wir es ab, ob die Politiker das Problem überhaupt begreifen, und wenn sie wider Erwarten begreifen sollten, wie werden sie es lösen?
Aber fleißig ist die hiesige Volkskammer, das muss ihr der Neid lassen. Ab heute sind nämlich die Gesetze über „Joint Ventures" in Kraft. Wer will, der kann bis zu neunundvierzig Prozent Anteile an einem volkseigenen Betrieb erwerben, wer nicht will, könnte es auch. In Einzelfällen soll sogar ein höherer Kauf möglich gemacht werden. Sie erinnern sich vielleicht an eine meiner Bemerkungen, dass man auf Biegen und Brechen versuchen werde, zu verkaufen, was unverkäuflich. Im Grand Hotel, das mittlerweile zur Zentrale aller Wirtschaftsverhandlungen zwischen neutralen und weniger neutralen Unterhändlern geworden ist, mit kostspieligen Arbeitsessen und allem, was zu einem ordentlichen Umgang von Leuten gehört, die wirklich was zu sagen haben, also den Stillen im Lande, ist die Meinung unter Bankiers und Finanzmaklern über diese „Joint Ventures" geteilt. Leute, die ihr Kleingeld zählen sind skeptisch und unterziehen den Leichnam einer eingehenden Prüfung, ehe sie ihm einen Sarg zumessen. Diese Probleme sind nur politisch zu lösen, wird Ihrem Korrespondenten bedeutet, und keineswegs durch freundschaftliches Küssen auf Mund und Wangen, wie es gelegentlich dezent geübt wird, nicht hier, nicht im Foyer des Grand Hotel. Bankiers, pardon, diese Leute heißen nun schon Banker, küssen nicht. Unglaublich schnell reißen jetzt die Dämme der Unterwerfung, zuerst in der Sprache, aber die Volksbewegung war ja auch eine Befreiung der Sprache. Also? Vortrefflich. Es sind Leute wie Edzard Reuter hier gewesen, die sich gewiss nicht auf die Socken machen mit dem Ziel, eine Wüste fruchtbar zu machen; so ist er auch bald wieder abgereist.
Ihr, wie immer, wohlaffektionierter ***
16.01.1990
Mein werter Herr Verleger,
wundern Sie sich nicht, wie unregelmäßig meine Briefe bei Ihnen eintreffen? Das liegt nicht an der Post, der Deutschen, die Lenin, der Große, als Vorbild für den Aufbau des sowjetrussischen Kommunismus auserkoren hatte, sondern daran, wie Ihrem Korrespondenten die Einfälle zuwachsen. So habe ich eben den Stand der Entwicklung resümiert, allein für mich. Was denken die Leute, denkt das Volk, über alle diese Bewegungen, das freie Spiel der politischen Kräfte im plötzlich grenzenlosen Raum?
Zunächst einmal ist deutlich an den Tag getreten, was Ihr Korrespondent mit seiner guten Nase am Abend des 4. November 1989 voraussah, die große Ernüchterung, und zwar auf beiden Seiten. Das Ausmaß ist aber doch erstaunlich, und ich hätte es nicht für möglich gehalten. Die lieben Brüder und Schwestern sind bei den Verwandten sozusagen in die Scheuer eingefallen und machen keine Anstalten, das im Wohnzimmer aufgeschlagene Notbett zu räumen, höchstens um den Nachfolger anzukündigen. Während diese armen Verwandten finden, dass sich die reichen Verwandten doch recht aufgeblasen bewegen, kommt man sich näher. Nimmt die Liebe im Bruder-und-Schwester-Bereich ab, so steigt der Sympathiepegel bei den Politikern, die in allen Lagern an den neuen Ketten schmieden, für die einen Brüder wie für die anderen. Die Volksbewegung zerfällt beschleunigter in zahllose Gruppen unterschiedlicher Interessen; die einen streben nach der liberalen Wirtschaftsfreiheit, andere, ängstlichere, wollen mit dirigistischen Mitteln den befürchteten Absturz dämpfen oder überhaupt eine neuartige Wirtschafts- und Sozialstruktur, nennen wir es Idee, installieren. Wieder andere möchten ungeschehen machen, was sie angerichtet haben. Die Zeit scheint den Aktiveren günstig, da der Westen bereit ist, sich seinen Sieg über den utopischen Ideenstaat, heiße er nun Sozialismus, Kommunismus, Diktatur des Proletariates oder die Diktatur der dominierenden Rasse, etwas kosten zu lassen. Die bis vor Kurzem noch