Einmal im Jahr die Sintflut ebook. Alana Maria Molnár

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Vater, er spricht den älteren Bruder jedesmal direkt an, wenn er da ist. Vater aber ist standhaft und erwidert weder den Gruß noch antwortet er auf irgendeine Frage, und bekommt regelmäßig Magenkrämpfe, wenn Onkel Gabi kommt. Das hätte eine andere Ursache, erklärt Vater seine Symptome. Wenn der Herr Graf sich bequemt, seinen Heimatort zu besuchen, nimmt Großmutter besonders viel Fett zum Kochen, behauptet Vater. Das ist der Grund für seine Beschwerden.

      »Gönnst du ihm nicht mal die paar Bissen? Siehst du denn nicht, wie dünn er ist? Er war doch so lange krank«, entschuldigt Großmutter den Onkel.

      Onkel Gabi kam aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien bis auf das Skelett abgemagert und mit Tbc infiziert heim. Noch Jahre danach muß er täglich eine Handvoll Pillen schlucken. Wir bitten ihn, uns zu zeigen, wie man das macht. Mein Bruder und ich haben schon Schwierigkeiten, eine einzige Tablette hinunterzubekommen, wenn es nötig ist. Onkel Gabi zeigt es uns. Er schüttet acht rosafarbene Pillen in die Handfläche, nimmt einen Schluck Wasser in den Mund, legt den Kopf mit einer schnellen Bewegung nach hinten, schluckt kurz und die Pillen sind weg.

      »Glaub ich nicht«, sagt mein Bruder, »zeig mal, wo du sie versteckt hast«.

      Der Onkel macht den Mund weit auf, daß alle seine Goldzähne blitzen, aber von den Tabletten ist keine Spur mehr zu sehen. Mein Bruder untersucht noch seine Wangen, drückt mit den Fingern von außen dagegen, um zu fühlen, ob der trickreiche Onkel nicht doch noch ein paar der rosafarbenen Dinger in der Backentasche bunkert, findet aber nichts.

      Danach übt er mit uns das Pillenschlucken mit den kleinen Zitronensäuretabletten, die mangels frischer Zitronen als Ersatz im morgendlichen Tee aufgelöst werden. Eine neue Gelegenheit für Vater über den Bruder zu meckern, als er uns beim Pillenschluckentraining erwischt.

      Onkel Gabi schüttelt das Geschimpfe des älteren Bruders ab wie Hunde das Wasser, wenn sie wieder im Trockenen sind und erzählt uns, was er alles während der Bahnfahrt von Budapest zu unserem Dorf gefunden habe. Wie ein Zauberer im Zirkus holt er aus seinen diversen Taschen Streichhölzer, Murmeln, Fahrkarte, Zigaretten, Kleingeld, und die alltäglichen Dinge verwandeln sich in seinen Händen. Ganz normale Münzen werden zu Zaubertalern, Streichhölzer zu Feenlicht, Glasmurmel zu Wahrsagekugel und was ihm sonst noch so einfällt. Seine Geschichten sind so real und gleichzeitig so märchenhaft, daß wir über ihren Wahrheitsgehalt erst nachdenken, wenn der Onkel längst wieder in der Bahn sitzt und sich schlafend erholt von den Strapazen des Aufenthalts bei uns samt Kneipenbesuch und Auftritten als Zauberer für Neffen und Nichte.

      Und weil seine Besuche keiner nachvollziehbaren Regel folgen, ist sein Auftauchen immer eine Überraschung. Mein Bruder und ich schlafen oft mit dem Wunsch ein, daß wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, möge Onkel Gabi mit der Großmutter in der Küche sitzen, bergeweise Rühreier mit Speck zum Frühstück verschlingen und mit einer Extrascheibe Brot den Teller sauberwischen.

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