Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani

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Die kleine Posaune der Freiheit - Ludwig Witzani

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Tartu, das alte Dorpat, erreicht, das intellektuelle Zentrum des Landes mit der ältesten Universität Estlands, die ihren Ursprung bis auf das Jahr 1632 zurückführte. Es war eine regelrechte Postkartenstadt, die mit ihrer klassizistischen restaurierten Altstadt und einer durchgrünten Promenade am Ufer der Emajogi Flusses Mitteleuropa entsprungen schien. Wieder versuchte ich die Atmosphäre zu erspüren: War das hier Osteuropa? Ganz bestimmt nicht. In Tartu sah es eher aus wie in Marburg. Studenten lümmelten sich auf den Brückengeländern, die Dozenten lasen Manuskripte in den Cafés, und ein ganzer Papierwald von Plakaten informierte über die Musikszene der Stadt. Für jeden, der sich in Tartu länger aufhalten oder an diesem Ort ein Studiensemester einlegen wollte, hielt die Stadt Galerien, Ausstellungen und Museen bereit, und wer nicht gerade eine Vernissage besuchte oder eine Vorlesung hörte, lag mit einem Buch auf einer der zahlreichen Wiesen im Schatten der Bäume. Auenland am Rande Mordors, ging es mir durch den Kopf, als ich die zahlreichen Skulpturen sah, die die Stadtverwaltung an allen Ecken Tartus positioniert hatte: Meeresjungfrauen, Liebende, die sich als Paare über einem Springbrunnen umarmen, Gelehrte in Denkerpose, Kleinkinder in Erwachsenengröße - es war, als sollte nur eine Busstunde von der russischen Grenze entfernt, eine Idylle beschworen werden, von der jedermann ahnte, wie brüchig sie war.

       Denn die idyllischen Außenansichten, die Estland in Tartu und anderswo so ostentativ präsentierte, konnten die Schattenseite des Landes nicht vergessen machen. Und der Schatten, der über Estland lag, hieß Russland. Um dieses Problem in seiner ganzen Bedrohlichkeit zu verstehen, genügte ein einziger Blick auf die demographischen Daten des Landes. Von Narva im Norden bis Petsen im Süden lebten mehrheitlich Russen, eingewandert in den Zeiten der Sowjetunion, die sich nun, nach dem Untergang der UdSSR, plötzlich als ungeliebte Fremde in einem Land außerhalb der eigenen Heimat wiederfanden. Es waren gut 400.000, höchstens eine halbe Million Menschen, ein Klacks, verglichen mit den 115 Millionen Russen im Heimatland, aber in Estland eine massive Minderheit, von der niemand recht wusste, was mit ihr geschehen sollte.

       In der Mitte zwischen Narva und Petsen befand sich Kallaste, eine russische Enklave am Peipussee, die wir nach einer kurzen Busfahrt von Tartu aus erreichten. Die Felder waren wilder, die Landschaft hügeliger, und die Zahl der Holzhäuser nahm umso stärker zu, je weiter wir nach Osten fuhren. Vor den kunstvoll geschnitzten Holzfenstern saßen üppige Matkas auf Holzschemeln und schwatzten. Uralte BMW´s und Audis, von denen keiner wissen konnte, wie sie ihren Weg in diesen Teil Europas gefunden hatten, sorgten mit offenen Türen und aufgedrehten Radios für die kostenfreie Beschallung der staubigen Dorfstraße. Wer hier mit einem dieser Autos durch das Dorf fuhr, machte das nicht unter siebzig Sachen, so dass meterlange Staubfahnen noch lange vom Vorüberbrausen eines importierten Westschlittens erzählten. Der Kaffee, den wir im einzigen Café von Kallaste tranken, war dünn, die Milch, die wir dazu orderten, war Westimport und kostete das Doppelte des Getränks.

      Nur wenige Schritte abseits der Dorfstraße war der Peipussee erreicht. Wie eine Kostprobe dafür, wie riesenhaft das Land war, das jenseits des Sees begann, erstreckte sich Wasser vor uns, soweit das Auge reichte. An einem kleinen Strand tummelten sich vorwiegend Frauen - elfenhafte und pummelige, junge und alte, schlanke und dicke Russinnen verdösten den Nachmittag, während ihre Männer die Motoren ihrer Fahrzeuge frisierten. Eine Bande kreischender Knaben rannte vorüber, nackt und verschmutzt bewarfen sie sich jauchzend mit Schlamm und pinkelten im hohen Bogen in den See.

       Es war warm an diesem Tag, und ein flimmernder Dunst lag über dem großen Grenzsee, mit dem die Russen einen der größten Tage ihrer frühen Geschichte verbinden: den Sieg der Russen unter der Führung Alexander Newskis im Jahre 1242 über eine Armee des Deutschen Ritterordens auf dem Eis des Peipussees, eine wahrscheinlich noch nicht einmal sonderlich bedeutsame historische Episode, die erst durch die Eisensteins Verfilmung zum ersten großen Abwehrkampf Russlands gegen den imperialistischen Westen hochstilisiert worden war.

       Daran, dass dieser See jemals zufrieren könnte, war an diesem Tag nicht zu denken. Es wurde immer wärmer, und ein heißer Wind wehte von Osten heran. Den Wiesen entströmte ein erdiger, dumpfer Geruch nach nasser, warmer Fäulnis, als sich Stefan neben mich setzte und darüber philosophierte, was die Frauen im Kern ihres Wesens bewegte. Seine bisherigen Misserfolge bei der Partnersuche hatten in ihm offenbar das Bedürfnis nach vertiefter Analyse geweckt. Seiner Ansicht drehte sich alles um die "Erbse" zwischen den Beinen einer Frau, die es zuallererst zu finden und zu bearbeiten gelte. Wer die "Erbse" nicht finde, gerate bei den Frauen ganz einfach auf die Abschussliste, sinnierte Stefan, während ein warmer Wind weiter durch die Blätter rauschte. „Was hältst du von dieser Theorie?“

      „Erinnert mich ein wenig an die Prinzessin auf der Erbse“, antwortete ich.

      „Stimmt“, sagte Stefan. „Komm, lass uns abhauen aus dieser Gegend. Hier gibt es nur hässliche Weiber.“

      *

      Es gibt Länder, in denen kann man in zwei bis drei Stunden von Osten nach Westen reisen, ohne dass man an der Landschaft merken würde, dass man vorangekommen ist. Im Falle Estlands ist dies nur teilweise richtig, weil wir nach den drei Stunden Busfahrt, die uns von Tartu und Kallaste nach Pärnu an die Ostsee führten, immerhin das Meer erblickten. Allerdings war das Wetter umgeschlagen, und hinter nassen Regenschleiern und tief hängenden Wolken verschwand der Horizont der Ostsee in einem konturlosen Grau.

       So war auch von Pärnu, dem hochgelobten ersten Seebad des Landes, im Regendunst nur wenig zu erkennen. Überall nur Pfützen, mit Zellophanplanen überzogene Kaffeehausstühle und dunkler, matschiger Sand an den Stränden. Kaum jemand war auf den Straßen zu sehen, dafür war aber auch weit und breit kein Zimmer frei. Schließlich fanden wir eine kleine Datscha im Garten eines Privathauses, von dem ich noch nicht wusste, dass seine Toilette im Garten nur mit Sägespänen funktionierte und dass uns der Dackel des Hauses Tag und Nacht heulend belagern würde, um mit uns zu spielen. Im Innern der Datscha waren die Wände mit Fischernetzen, einem Elchgeweih, Matrosenbildern, Urkunden in kyrillischer Schrift und diversen Skulpturen behangen. Eine Ronald-Reagan-Maske aus Gummi hing an einem Haken gleich neben einer Marienstatue, und der Teppich sah so aus, als beinhaltete er noch immer sämtliche Sekrete, die seit der Zarenzeit in diesem Raum verspritzt worden waren. Doch der Regen klatschte immer drängender gegen die dunklen Scheiben der Datscha, und so nahmen wir das Zimmer, brachten den Wasserkocher in Schwung und tranken unseren ersten Kaffee in Pärnu.

       „Ganz schön trist hier“, sagte ich zu Stefan. „Ich könnte verstehen, wenn du jetzt abhaust und dich in einem besseren Hotels einquartierst.“

       „Nein“, wehrte er ab. „Das ist schon in Ordnung. Ich schlafe erst mal eine Runde. Morgen wird schon wieder die Sonne scheinen.“

       Das allerdings war ein Irrtum. Volle zwei Tage zogen immer neue schwarze Regenwolken von der Ostsee heran und entluden sich über der Stadt. Nur zwei- oder dreimal hörte der Regen für ein oder zwei Stunden auf, um dann umso stärker aufs Neue loszubrechen. Wir gewöhnten uns an ein Geräusch, als würden Tag und Nacht Millionen Fingerkuppen auf das Holzdach trommeln, beobachteten, wie die Pfützen im Garten immer größer wurden und ließen schließlich den jämmerlich vor unserer Türe jaulenden Dackel in unsere Hütte, um ihn abzureiben und mit ihm zu spielen.

       Eigentlich hatte ich mich am Strand von Pärnu ein wenig sonnen wollen, daraus wurde nun nichts. Und auch für Stefan war es sinnlos, den Schönheiten der baltischen Frauen im strömenden Regen nachzuspüren. Da er kaum las, schlief er viel oder saß stundenlang am Fenster und blickte in den Regen. Er hatte zwei Flaschen Wein besorgt, aus denen er sich in immer kürzeren Intervallen ein Glas einschenkte.

       „Sag mal, hast Du eigentlich schon mal eine Freundin aus Osteuropa gehabt?“ fragte er mich unvermittelt.

       „Nein.“

       „Ich schon.“

       „Und, wie

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