Mauerblume. Rita Kuczynski

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Mauerblume - Rita Kuczynski

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Leben zu beenden, kam ich erst langsam. Ich war sprachlos nach dem Einsturz meiner musikalischen Welt. Mich in einer anderen Sprache als in der der Musik auszudrücken, hatte ich nicht gelernt. Darüber hinaus schienen mir alle anderen Ausdrucksformen wenn nicht minderwertig, dann zumindest unbrauchbar, jedenfalls für mich. Ich wußte nicht, wie zu sprechen war über das, was geschehen war. Was ich sagte, war unbeholfen und grob. Die Wörter brachten nicht zum Ausdruck, was ich sagen wollte. Ich bekam Angst zu sprechen, weil mir meine Entfremdung unüberhörbar und unverhohlen gegenüberstand.

      Wortkarg arbeitete ich am liebsten als Hilfsarbeiterin in Nachtschichten im volkseigenen Glühlampenwerk Narva. Diese Arbeit hatte nichts mit mir zu tun und wurde gut bezahlt. Die Arbeiter tolerierten mich, weil ich meine Arbeit schaffte, trotz meines immer abwesenden Blicks.

      In dieser Zeit hatte ich einen kaum zu bändigenden Drang zu stehlen. Wenn ich schon gezwungenermaßen im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat leben mußte, wollte ich auch etwas davon haben. Schließlich gehörte das Eigentum allen, und so nahm ich mir vom Volkseigentum, was ich zum Leben brauchte.

      Etwa zwei Jahre zog ich mit meiner Tasche durch Berlin-Brandenburg. Inzwischen hatte ich Deddi, Maria und Leisten-Paul kennengelernt. Deddi war vor 1961 ein sogenannter Grenzgänger. Er wohnte im Osten und arbeitete im Westen. Sein Lohn wurde gesplittet, 50 Prozent in West, 50 in Ost. Deddi ging es vor dem Mauerbau finanziell gut. In Westberlin arbeitete er als Einkäufer für ein Hotel. Manchmal erzählte er, wie er Eier, Butter und Fleisch vom Osten in den Westen verschob und wie alle Beteiligten daran verdienten. Daß er nach dem 13. August 1961 im Osten hängengeblieben war, hatte er nie verkraftet. Deddi hatte einen Lastwagen und eine ungeheure Wut auf die DDR. Diese Wut, eingesperrt zu sein, einte uns. Der Zukunft zugewandt, die vor der Mauer endete, waren wir uns schnell einig, daß wir etwas tun mußten, um unser sozialistisches Glück zu verkraften. Mit dieser Wut organisierten wir den Diebstahl von Holzzäunen.

      Ich hatte Deddi über Maria kennengelernt. Maria arbeitetete auch im Glühlampenwerk. Wir verabredeten uns immer häufiger zur Nachtschicht. Sie hatte Schulden, wie sie mir später sagte. Maria war beeindruckt von meinem Gehör. Ich konnte ihr nämlich sagen, wann das Band, an dem wir Glühlampen einsortierten, stillstehen würde. Ich hörte es vorher, weil der Antriebsmotor in unregelmäßigen Drehzahlen arbeitete, bevor er kaputtging. Ich sagte ihr dann, gleich könnten wir eine Zigarette rauchen. In diesen Rauch- und Quasselpausen haben wir uns angefreundet. Den Pauschallohn für die Nacht bekamen wir auch, wenn das Band wegen eines technischen Defekts nicht lief. Als ich vertrauter war mit Maria, erzählte ich ihr von den Kopfschmerzen, die ich häufig vom Lärm in den Maschinenhallen bekam. Eines Tages fragte sie, ob ich nicht als Horcherin mitmachen wolle bei dem Diebstahl der Zäune. Das wäre gut für alle. Sie wären nämlich beinahe mal erwischt worden, weil sie die nahenden Spaziergänger nicht gehört hätten. Natürlich müsse ich nicht nur horchen, sondern auch Zäune schleppen. Ich war einverstanden und schleppte mit Maria und Deddi den ganzen Winter lang Schneewachten von den volkseigenen Feldern. Leisten-Paul hatte einen Privatladen für Gartengeräte. In seinem Schuppen strich er die Wachten mit dunkelbrauner Holzbeize zu Zäunen um und verkaufte sie unter der Hand. Gartenzäune aus Holz waren knapp, wie alles in der DDR knapp war. Und die Zahl der Kleingärtner stieg gerade in dieser Zeit. Von dem Erlös der Schneewachten ließ sich leben. So wechselte ich also von der Nachtschicht im Glühlampenwerk zur Nachtschicht bei Deddi. Meine Arbeit bei ihm nahm ich ernster, als ich sie im volkseigenen Werk genommen hatte, weil mein Verdienst im hohen Maße von mir, von meiner Geschicklichkeit und meinen Einfällen abhing.

      Als der Winter zu Ende ging, ging auch unsere Saisonarbeit zu Ende. Die Genossenschaftsbauern holten die übriggebliebenen Schneewachten von den Feldern. Deddi und Maria zogen mit ihrem Lastwagen gen Ostsee. Ich hatte etwas Geld gespart und besetzte eine leerstehende Wohnung. Sie war ziemlich heruntergekommen, aber gemütlich. In dieser Zeit lebte ich sehr spartanisch. Ich stahl nur, was ich zum Essen brauchte und Bücher, vor allem Klassiker: Hölderlin, Schiller, Kleist, Büchner und Eichendorff. Es war das erste Mal, nachdem ich von meiner Großmutter fort war, daß ich wieder las. Hölderlin war schon als fünfzehnjährige mein Lieblingsdichter gewesen, und er sollte es noch Jahrzehnte bleiben.

      Der Aufbau-Verlag hatte in dieser Zeit eine sehr gute Klassikerreihe herausgebracht. Ich besaß sie bald komplett. Irgendwer hatte mir einen Band Rilke geschenkt. Ich las Gedichte und Dramen wie eine Süchtige. Über den Sommer gingen meine Ersparnisse am Volkseigentum zu Ende. Das war in der Zeit, da das Fleisch in Berlin mal wieder rationiert wurde. Jeder mußte eine feste Fleischerei wählen, seine Adresse notieren lassen, um Fleisch zu bekommen. So sehr ich über den Sommer süchtig war nach Gedichten, so sehr bekam ich im Übergang zum Herbst Appetit auf Fleisch. Ich hatte in der Zeit, als ich Klavier spielte, in Prüfungszeiten immer Steaks gegessen. Meine Großmutter schwor auf Steaks gegen Prüfungsstreß, ich glaubte daher an die stärkende Wirkung von Rindersteaks.

      Ob zuerst das Fleisch knapp wurde und sich dann mein Hunger einstellte oder umgekehrt, kann ich mit Sicherheit nicht sagen. Auf jeden Fall waren zwei Pfund Fleisch in der Woche, oder etwas mehr, zu wenig für meinen Hunger, der so plötzlich über mich gekommen war. Ein Schild in einer privaten Fleischerei: “Suche Verkäuferin”, brachte mich auf die Idee, hier meinen Hunger loswerden zu können. Ich ging in den Laden und sagte, daß ich als Verkäuferin arbeiten wollte. Der Fleischermeister besah mich von oben, nach unten, nach oben. Ich war sehr dünn zu dieser Zeit. Ich glaube, der Meister war sich einen Augenblick lang unsicher, ob ich ihn veralbere. Ich wiederholte mein Angebot mit dem mir möglichen Ernst. Daraufhin sah er sich meine Hände an. Er wollte sehen, ob ich auch zupacken könnte. Ich sagte nichts von der Klavierspielerin. Ich packte zu. Er stellte mich ein. Er zeigte mir die Handgriffe, die ich brauchte, damit ich mir nicht die Finger abschnitt beim Rouladenschneiden. Er zeigte mir, wie ich mit Beil und Knochen umzugehen hatte und wie mit dem Wurstmesser. Dann ließ er mich in Ruhe. Er belästigte mich nicht mal sexuell. Ich war ihm zu dünne, wie er sagte. Er erlaubte mir auch deshalb, soviel Fleisch und Wurst zu essen, wie ich wollte. Natürlich nur während der Arbeitszeit. Für das Wochenende gab er den beiden anderen Verkäuferinnen und mir immer etwas Feines mit für den Sonntagsbraten, wie er sagte.

      Als Verkäuferin in einer privaten Fleischerei hatte ich mein erstes ordentliches Arbeitsverhältnis im Arbeiter-und Bauern-Staat.

      Nachdem ich durch Rindfleisch und Koteletts tatsächlich wieder zu Kräften gekommen war, ging mir der Winter und meine Arbeit in der Fleischerei bald derart auf die Nerven, daß ich Depressionen bekam. “Hundert Gramm Jagdwurst, 100 Gramm Leberwurst und 150 Gramm Thüringer im Stück.” - “Rinderfilet haben wir nicht.” In Gedanken: Jedenfalls nicht für Sie. “Aber Kaßlerrippchen haben wir, die sind sehr schön. Fragen Sie mal Freitag nach. Freitag kommt neue Ware. Vielleicht ist da etwas dabei...” Das tägliche Einerlei. Immer die gleichen Handgriffe, Gespräche, die gleichen Kunden und Kommentare der Verkäuferinnen. Was ging mich das an? Das konnte nicht das Leben sein, jedenfalls nicht für mich.

      Aber ich weigerte mich, mich mit den Verhältnissen auseinanderzusetzen, in denen ich lebte. Ich lief, als hätte ich selbst eine Decke über mich geworfen, die mich unsichtbar machte, auch vor mir selbst. Es war eine Art Dämmerzustand, in den ich gefallen war. Ich wollte nichts wissen von der DDR, von Politik und vom sozialistischen Tralala. Ich las auch keine Zeitung in jener Zeit. Die Zeitungssprache erzeugte Brechreiz in mir.

      Meine eigene Leere machte mir sehr viel Angst. Mit dieser Angst nahm ich eines Tages all die Pillen, die mir die Psychiater über Monate verschrieben hatten und die ich nicht genommen, wohl aber gesammelt hatte. Ich wachte in einem Krankenhaus auf. Die Station, auf der ich lag, hieß Reanimation. Mein Bett war umstellt von blauen Sauerstoffflaschen. Ich fühlte mich elend und war wütend auf die Ärzte und Schwestern, die um mein Leben kämpften, wie sie sagten. Was ging sie mein Leben an? Ich wollte es beenden, und sie hatten kein Recht, sich da einzumischen.

      Als ich aus der Klinik entlassen wurde, hatte ich wieder keine Wohnung. Auf den Spaziergängen durch die Klinik aber hatte ich die Aushänge gelesen: “Suchen Krankenschwestern und Hilfsschwestern. Unterkunft im Schwesternwohnheim

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