Der Besucher. Norbert Johannes Prenner
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Dem Ende wollte er ausweichen, wo immer es ging. Davor verschloss er sich und sein Herz, überließ es großzügig denen, die sich am Fertigdenken delektieren konnten, denen es nichts ausmachte, sofort darauf gleich ein anderes Buch zu lesen. Nicht er! Ihm war es ein Gräuel auch nur daran zu denken, f e r t i g- lesen zu müssen, schließen zu müssen! Er kannte den Inhalt, das war genug! Diese Welt war für ihn genauso wenig fertig, wie jener Roman vollendet schien – vielleicht gar nicht zu Ende gedacht war. So hielt es Moll mit diesem Buch, zumindest mit seinem ersten Teil, seit Langem stets treuer Reisebegleiter auf seinen zahlreichen Reisen. Eher war es Molls mangelnder Konzentration zuzuschreiben, dass er nur sehr flüchtig über die schon so oft gelesenen Seiten streifte, als plötzlich Sybilla Trinks ins Spiel trat. Die Einbildungskraft, im weiteren Sinn Molls Vorstellungsvermögen, vielmehr die schöpferische Neubildung dessen, was er gesehen, wahrgenommen, gefühlt hatte, brachte sie wiederholt hervor, eine Reproduktion gleichsam ihres Bildes, ihrer Gestalt, alles – viel mehr noch, phantasieverbrämt, gar ausschweifend. Diese Einbildungskraft drängte sich ihm auf, verschonte ihn immer seltener. Er war bedacht auf seinen regen Geist, um dessen Einschränkung er in jeder Phase seines Lebens äußerst besorgt war, ihn bis zuletzt zu erhalten! Sybilla Trinks! Ob sie schon unten im Salon war? Er könnte doch ganz einfach zum Flügel gehen, ganz hinten stand einer, zugedeckt mit einem weißen Leintuch, und würde ihr zu Ehren – nicht irgendein - ach, wie er dieses Geklimper schon hasste! Wohltemperiertes Stufenbarren! Pianisten – wie Sand am Meer, trainiert wie die Affen! Prüfsteine lähmender Fingergymnastik, die jeder beherrschen musste, damit auch der Laie sofort erkennen konnte, seht her! Das ist einer, der kann’s aber. Dieses Klavier! Nein, das war kein Instrument! Doch, ein Folterinstrument, für Hand und Ohr! Töne – alle nicht formbar - kein Vibrato! Nichts! Ja! Piano Forte! Das schien ihm tref-fender. Einzige Bezeichnung für seine dynamische Armut! Dieser Begriff gewährte ihm inbrünstig Genugtuung, wenn er dieses Instrument beleidigt sehen wollte. Nein, nein, er dachte daran, Trinks Illusion mit seinem Spiel zu nähren, sie emporzuheben in einem ansteigenden Crescendo, um der nüchternen Wirklichkeit zu entfliehen!
Ein Tastenspiel war gefragt – perlender Zaubertrank zwischen Illusion und Desillusion - künstlerische Phantasie - mehr oder minder gelenkte erfinderische Vorstellung, welches der Einfühlung bedurfte - jener Einfühlung, von der er sich erhoffte, Sybilla Trinks würde ihn erhören. Erhören und gleichzeitig auch verstehen, was mit Worten nicht zu beschreiben war – nonverbale Anbetung, durch grünen Chiffon inspiriert, nicht bloß als eine Leistung eines Gefühls, nein – sondern durch teleologisch eigenschöpferischen Erfindungsgeist, zielgerichtet auf ihr – Herz! Nun hieß es, bereit sein zu einer Zwischenakteinlage improvisatorischen Könnens! Sie musste seiner Komposition verfallen, darin lag seine einzige Chance, das war ihm klar. Zunächst nur ein paar Takte, ganz nebenbei, bis zum Cantabile vielleicht. Tempo rubato – und trocken, ganz trocken – ohne Pedal. Danach langsam zwei drei Akkorde, aus dem Gedächtnis – vielleicht eine Wiederholung, gut, zweimal hintereinander, ganz entspannt! Die rechte Hand, wenn sie müde wurde von den Quintolengirlanden – nachlassen, einfach den Druck nachlassen, aber, der Bedeutung des kleine Fingers und des Daumens mehr Gewicht beilegen! Jetzt musste der Zeitpunkt für das Pedal kommen – schnelle Auf-und-Abwärtsbewegung – für besondere Effekte immer etwas früher aufheben! Zyklisch spielen! Zirkulieren! Sie würde es nicht merken, dass wiederholt wurde, nein, sicher nicht. Die Linke musste ein harmonisches Fundament finden, eine einfache Struktur sogar, brauchte nicht sonderlich kompliziert sein. Das war Aufgabe der Rechten! Darüber erhob sich die Rechte! Keine Triller! Kommt überhaupt nicht in Frage! Triller sind kindisch und signalisierten bloß unnötig kadenziöses Getue. Oder vielleicht doch etwas davon nehmen? Invertierten Mordent vielleicht? Hände und Gehirn, beides ununterbrochen in Bewegung, in Aufruhr, könnten unnötig durcheinander geraten. Nein, dann lieber Arpeggi! Aufeinanderfolgend - wären vielleicht besser!
Kapitel 4
Molls zweites Ich.
Moll erwachte, als die nahen Kirchenglocken läuteten. Er setzte sich jäh auf, nahm die Brille ab und rieb seine Augen. Neunzehn Uhr zwanzig. Um Gottes Willen! Abendessen! Seit einer dreiviertel Stunde schon! Sybilla Trinks könnte bereits gegessen haben. Vielleicht hatte sie danach ein Rendezvous? Oder sie aß auswärts? Konnte ja sein. Rabitsch hatte so etwas ja angedeutet, dass manche das taten. Oder? Und woher wusste der überhaupt, dass er bloß ein paar Tage zu Erholung hier war, fragte er sich? Außer mit Trinks hatte er mit niemandem darüber gesprochen. Er stand auf, ging zum Kleiderschrank und wechselte seinen leicht zerknitterten, hellen Leinenanzug gegen eine graue Hose und ein dunkelblaues Abendsakko. Die beigen Leinenschuhe vertauschte er gegen schwarze Lederstiefletten mit Zipp an den Innenseiten. Ach ja, die Frisur! Etwas Gel? Viel war da nicht zu machen. Was noch? Hugo Boss! Nicht zu aufdringlich! Er machte das Licht aus und trat auf den Flur. „Guten Abend!“, ertönte plötzlich die leise Stimme eines Gegenübers. Eine jugendliche offensichtlich, soweit Moll das feststellen konnte, denn die Beleuchtung war äußerst spärlich. „Sie gehen auch zum Abendessen?“ Der junge Mann vor Moll nickte artig und bot ihm höflich an, vorzugehen. „Vielen Dank“, sagte Moll, „aber Jugend vor Alter! Sie sind doch sicherlich hungrig? Sind Sie zur Kur? Ach ja, Norman Moll, wenn ich mich vorstellen darf.“ Moll reichte ihm die Hand. „Ich bin – ja, genau, zur Kur. Sehr angenehm, Johannes Manon“, stellte sich dieser vor. „Na, dann wollen wir“, sagte Moll. Sie schritten die Treppen hinunter zum Salon. Moll beobachtete den jungen Mann mit seltsamer Neugier. Sein Gang, der schlanke Körper, die zarten Gliedmaßen. Etwas längere Haare, dunkelbraun, ein kleiner S-Fehler, wie er vorhin beim Sprechen bemerkt hatte. Alles kam ihm irgendwie vertraut vor an Manon. Als hätte er ihn schon einmal gesehen. Unmöglich. Ein Déjà-vu! Beinahe schon, wie gestern bei der Trinks, dachte Moll. Unsinn. „Langsam werde ich alt“, sagte er zu sich.
„Ich habe nicht ganz verstanden“, sagte Manon. „Nein, nein. Ich habe nur für mich – sie verstehen“, lachte Moll, als sie vor der Salontür angekommen waren. Er öffnete, und ließ Manon vor-angehen. An mehreren kleinen Tischen, weiß gedeckt, mit frischen Nelken in durchsichtigen Vasen, saßen Rabitsch und eine Dame, links davon der Graf, alleine. Dahinter Sybilla Trinks, gleichfalls ohne Be-gleitung. Rechts von Rabitsch waren noch zwei weitere Tische gedeckt. Einer für Moll, und einer offensichtlich für Johannes Manon.