Usbekisches Reisetagebuch. Ludwig Witzani

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Usbekisches Reisetagebuch - Ludwig Witzani

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worden sein soll. Auf meine Nachfrage hin erklärte Amir, dass ein gewisser Al-Farsi, der zuerst Zoroastrier, Buddhist und dann Christ gewesen sei, um am Ende Mohammed als dem Vollender aller Offenbarung zu folgen, an der Erstellung des Korans maßgeblichen Anteil gehabt hatte. Alles, was der Erzengel Gabriel dem Propheten erzählt habe, sei anschließend dem Al-Farsi in die Feder diktiert worden. Die 114 Suren, die auf diese Weise das Licht der Welt erblickten, so Amir, seien das endgültige, unveränderbare und für alle Zeiten geoffenbarte Wort Gottes, fuhr Amir fort, und ich fragte mich, ob ihm wirklich klar war, was er da sagte, denn es gab zahlreiche Suren, die sich widersprachen oder die unverblümt zu Täuschung und Gewalt gegen Ungläubige aufriefen. Sollte das wirklich unabänderlich sein? Außerdem war es natürlich Unsinn, daß der Koran als eine autorisierte Schrift bereits zu Lebzeiten des Propheten entstanden sein sollte. Es gab mindestens vier unterschiedliche Fassungen, die erst im 10. Jahrhundert vereinheitlicht wurden. Sollte ich das einwenden? Natürlich nicht. Schließlich waren wir im Ausland, da wollte ich kein Klugscheißer sein.

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       Kaffat Sashi Mausoleum in Taschkent

      

      In einer Medrese, in der die fünf Uhrzeiten des Gebetes dargestellt wurden, erläuterte Amir die fünf Voraussetzungen der Gebete: Sauberkeit des Körpers, der Kleidung, des Platzes, die Richtung gen Mekka und die rechte Verhüllung (bei den Frauen selbstverständlich ausgeprägter als bei den Männern) – und eben die Uhrzeit.

      Nachdem Amir uns diese Geschichte erzählt hatte, berichtet er und noch einmal, wie gerne er Schweinefleisch äße und Wodka trinke. Darin konnte er keinen Widerspruch zum Koran erkennen. Mich brachte diese Äußerung auf zwei Gedanken. Erstens: Amir war hungrig. Zweitens: Max Webers Diktum vom Nebeneinander widerstreitender Werte im Alltagsleben fiel mir ein, jenes opportunistische Wertegewurschtel, ohne das ein erträgliches soziales Leben überhaupt nicht möglich ist. Fundamentalist sein, hieß wahrscheinlich, die obersten Werte zu einhundert Prozent in sein Alltagsleben zu übertragen. Liberal sein hieß, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, Schweinefleisch zu essen, wenn ich hungrig war und zu Allah beten, wenn ich Beistand brauchte.

      Auf dem Bazar von Taschkent liefen uns die Schwarzmarkthändler hinterher, doch noch ehe ich hören konnte, welche Kurse sie uns anboten, drängte uns Amir weiter. „Das sind Halunken und Räuber, die betrügen die Touristen“, sagte er mit besorgter Miene. Der Halunke war er, weil er auf diese Weise verhinderte, dass wir den wirklichen Schwarzmarktkurs erfuhren.

      Der Bazar von Taschkent fand in einer großen überdachten Halle statt Alles war sauber und geordnet, bunt waren nur die Gewänder der Frauen. Unangenehm war die Bettelei der Zigeunerinnen, die plötzlich an einen herantraten, einen am Arm ergriffen und mit Nachdruck ein Backschisch forderten. Ihre Gesichter waren hart und verschlagen, Zurückweisungen nahmen sie nicht ernst und setzten einem weiter zu, bis man sich von ihnen losriss. In der ganzen Welt hatte ich immer wieder solche Erfahrungen mit Zigeunern gemacht, aber wehe, man erwähnte sie, dann drohte ein Shitstorm sondergleichen. In einer Unterführung saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt und schrie wie am Spieß, welche Not sie leide. Es war eine Zigeunerin, und man hatte ihr zur Optimierung ihres Auftritts ein Zigeuner-Baby in den Arm gelegt, das wohl nur mit Betäubung das stundenlange Gekreische des Mädchens ertragen konnte. „Zigeuner sind faul“, sagte Amir. „Außer Timur hat sie niemals jemand zum Arbeiten gebracht, noch nicht einmal die Kommunisten.“

      Mittagessen im Al-Aziz, einem der schönsten Lokale von Taschkent. Wir orderten je eine Portion Lagnam, ein usbekisches Nudelgericht, das es als Suppe wie als Spaghetti gab, tranken den schmackhaften grünen Tee und genossen den strahlend blauer Himmel. Die Temperaturen waren frühlingshaft, was aber beileibe nicht immer so sei, wie Amir anmerkte. Im Winter fiele das Thermometer auf minus 60 Grad, und im Sommer seien es fünfzig Grad plus. Hitzefrei gäbe es bei 40 Grad plus, was aber praktisch niemals vorkäme, weil die Medien immer nur 39 Grad meldeten. Ähnlich hätten sich die Medien 1966 beim großen Erdbeben in Taschkent verhalten. Obwohl Tausende dem Beben zum Opfer gefallen waren, wurde offiziell nur ein Toter gemeldet. Aber das sei letztlich alles bedeutungslos, fuhr Amir fort, denn ganz egal wie heiß es im Sommer werde oder wie oft die Erde bebe, alles in allem seien die Usbeken mit dem Regiment von Präsident Karimov zufrieden, denn er garantiere das Wichtigste von allem: Stabilität und Frieden. Amir selbst profitierte sogar in besonderer Weise vom Karimov-System, denn jeden Herbst hatte er als Deutsch-Lehrer einen ganzen Monat frei, weil in dieser Zeit die Jugend zur Baumwollernte zwangsverpflichtet wurde.

      Nicht weit vom Al Aziz Restaurant befand sich das Erdbebenmonument, eine Skulpturengruppe im Stil des sozialistischen Realismus. Auf einem aufbrechenden Boden bäumen sich ein Mann, eine Frau und ein Kind auf, erschrocken, heldisch und zugleich hilflos, die Hände vorgestreckt, als sich die Erde öffnet.

      Peter Scholl Latour kommt in seinem Buch „Schlachtfeld der Zukunft“ auf den Beginn der usbekisch-russischen Konflikte zu sprechen, die am Ende der Sowjetzeit immer virulenter wurden. Seiner Ansicht nach hätten Russen und Usbeken lange Zeit relativ friedlich nebeneinander hergelebt, weil sie räumlich getrennt waren. Es existierten zwei Parallelgesellschaften ohne intensivere Berührungspunkte, so dass die tagtäglichen Konflikte ausblieben. Das änderte sich durch das große Erdbeben des Jahres 1966 in Taschkent. Die nach der Zerstörung der Stadt massenhaft neu erbauten Wohnungen wurden an Russen und Usbeken gleichermaßen vergeben, so dass die beiden Ethnien nun viel enger zusammenrückten. Fremdheit, Aversion und schließlich Mord und Totschlag waren die Folge. Was bedeutete dieses Faktum für das Konfliktpotenzial in heterogenen Gesellschaften? Nicht die Aufhebung von Parallelgesellschaften, sondern ihre räumlich separierte Existenz garantierte ein Mindestmaß an sozialem Frieden.

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       Erdbeben-Monument in Taschkent

      

      Im Jahre 1966 wurde aus Anlass des 660. Todestag des Mongolenfürsten Timur (1336-1405) das Timuriden-Museum in Samarkand eröffnet. Dieses Museum verherrlichte einen Völkerschlächters, der in seinem langen, bluttriefenden Leben nicht weniger als eine Million Menschen hat ermorden, erschlagen, verbrennen, verschütten oder enthaupten lassen. Keiner wusste, was Präsident Karimov geritten hatte, als er Timur zum Nationalhelden erhoben hatte. Vielleicht hatte er es getan, weil er selbst so ein Schlächter ist, mutmaßten seine Gegner. Nein, er hat es getan, weil er weiß, dass jedes Land eine ruhmreiche Geschichte braucht, widersprachen seine Anhänger.

      Wie immer es sich auch verhalten mochte, im Timuridenmuseum erscheint der welterobernde Mongolenfürst als Vater des Vaterlandes, als Kulturschöpfer, der mit seiner Beute die Städte Transoxaniens ausbauen und zu aller Nutzen Kanäle anlegen ließ. Eine riesige Eingangshalle empfängt den Besucher, ein gewaltiger Leuchter hängt von der Decke, so schwer und groß, dass ich darauf achtete, nicht unter ihm zu stehen zu kommen. Bunte Bilder im Mogulstil befanden sich an den Wänden, meterhoch wurde die glorreiche Vergangenheit illustriert, gemalt wurden die Bilder natürlich in der Gegenwart.

      Der Tag klang aus mit einem Besuch des Unabhängigkeitsplatzes von Taschkent. Früher stand hier einmal die größte Leninstatue der Welt, nach der Ausrufung der usbekischen Unabhängigkeit war sie durch eine große Weltkugel ersetzt worden. „Lenin hat ein Ei gelegt, “ kommentieren die Einheimischen diese Veränderung. Eine steinerne Mutter mit Kind, die an eine christliche Pieta erinnerte und doch nur eine fruchtbare Usbekin darstellen sollte, saß pflichtbewusst und fruchtbar unter der Weltkugel und hielt einen kleinen Usbeken im Arm. Der Unabhängigkeitsplatz wurde begrenzt durch eine stilisierte Säulengalerie, auf deren Giebel sich große Störchen aus glänzendem Blech befanden, möglicherweise weil die Zahl der wirklichen Störche in Usbekistan dramatisch zurückgeht.

      Ein

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