Der mündige Trinker. Peter Sadowski
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Wenn es z.B. zu den individuellen Teiltherapiezielen des Patienten gehörte, selbstsicherer zu werden, kann der bis dahin erreichte Erfolg von Patienten und von Bezugstherapeuten unterschiedlich bewertet werden.
In diesem Fall sind dann die Systeme zur Fehlerminimierung transparent zu halten, die eingesetzt werden.
Der Patient kann die eigene Einschätzung vergleichen mit der Einschätzung der anderen Mitglieder seiner Bezugsgruppe und der Therapeut kann seine Einschätzung mit der Einschätzung der anderen Mitglieder des therapeutischen Teams vergleichen. Das Ergebnis dieser beiden Prozesse zur Fehlerminimierung sollte dann in die gemeinsam zu erarbeitende Bewertung einfließen, ob das individuelle Therapieziel Verbesserung der Selbstsicherheit in ausreichendem Maße während der stationären Rehabilitationsphase angestrebt wurde.
Der Patient ist durch das Offenlegen der Ergebnisse aus den beiden Fehlerminimierungs-Prozessen weniger abhängig von der Bewertungsmacht seines Bezugstherapeuten.
Wenn z.B. die Einschätzung des Patienten, er habe sich während des Realitätstrainings um eine Steigerung seiner Selbstsicherheit bemüht, indem er konfliktträchtige Themen innerhalb der Familie angesprochen hätte und wenn diese Ergebnisse innerhalb des Realitätstrainings vom Patienten und dem Bezugstherapeuten jeweils gemeinsam geplant worden waren, wird es wenig Einwände gegen die Einschätzung des Patienten geben, dass er ein definiertes Therapieziel angestrebt hat und dass er auf seinem Weg zur Bewältigung seiner Störung bereits einige Erfolge gesammelt hat.
Wenn der Therapeut in einem solchen Fall nicht darauf hinweisen kann, dass aus dem Plausiblen Modell noch einige wichtigere Ziele anzustreben seien, sollte er in Abstimmung mit dem verantwortlichen Arzt den Entlassmodus „vorzeitig regulär“ für diesen Patienten festlegen und dem Wunsch des Patienten nach Behandlungsverkürzung entsprechen.
Wenn allerdings der Patient mit dem Verkürzungswunsch ein Plausibles Modell vorgelegt hat, das in den Fehlerminimierungs-Prozessen als unzulänglich bewertet wird, sollten diese Ergebnisse gemeinsam mit dem Patienten gesichtet werden. Die Zusammenschau der Bewertungen (Patient: gutes Plausibles Modell; Mitpatienten: schwaches Plausibles Modell; Bezugstherapeut: schwaches Plausibles Modell; Kleinteam bzw. Reha-Team: schwaches Plausibles Modell) führt dann zu der Entscheidung des Bezugstherapeuten, einer vorzeitig regulären Entlassung nicht zuzustimmen.
Das Sichten und das Besprechen der Ergebnisse von Fehlerminimierungs-Prozessen kann den Bezugstherapeuten nicht aus seiner Verantwortung zur eigenen Bewertung entlassen; er kann die Entscheidung nicht an die Gremien „Patientenschaft“ oder „Reha-Team“ delegieren. Er kann aber für den betroffenen Patienten transparent machen, auf welcher Grundlage er zu seiner Bewertung zum Therapiestand des Patienten kommt. Die Ausübung von Bewertungsmacht gegenüber dem Patienten wird auf diese Weise möglichst gering gehalten.
Der motivationale Status eines jeden Patienten wird in der Regel auch von Bedingungen bestimmt, die außerhalb seiner Entscheidung liegen. Manchmal scheinen diese Bedingungen derart bedeutsam zu sein, dass aus der Sicht von Mitarbeitern der Einrichtung die Vermutung begründet ist, der Patient wollte primär in Aussicht stehende Nachteile abwenden; möglicherweise würde er die Einrichtung in diesem Sinne funktionalisieren.
Aus der Tatsache der Anwesenheit des Patienten in der Einrichtung wird manchmal die Berechtigung abzuleiten versucht, mit detektivischem Ehrgeiz die extrinsischen Motivationsanteile zu sichten und dem Patienten möglicherweise nachzuweisen, dass er die Behandlung eigentlich gar nicht wolle.
Eine solche Vorgehensweise bedeutet ebenfalls Ausübung von Macht; insbesondere wenn sie die Willenserklärungen des Patienten nicht gebührend würdigt (Antrag auf Behandlung, Freiwilligkeitserklärung, Beschreibung der Motivation im Sozialbericht, Beschreibung der Motivation im ärztlichen Gutachten, Vorgespräch, Antritt der Therapie, Unterschrift unter den Therapievertrag usw.).
Deshalb ist eine solche Vorgehensweise grundsätzlich zu vermeiden; stattdessen wird in der beschriebenen Vorgehensweise nahezu ausschließlich mit der Implikation gearbeitet, der Patient hätte sich aus eigenem Antrieb für die Aufnahme der stationären Behandlung entschieden.
Wenn ein Patient in der Vorgeschichte in einem Gerichtsverfahren Rechenschaft über ein bestimmtes Verhalten abgelegt hatte und das Gericht in einem Urteil einer Haftstrafe ausgesprochen hatte und von der Vollstreckung dieser Strafe nur unter der Auflage abgesehen hatte, dass der Verurteilte sich einer Entwöhnungsbehandlung unterzieht, liegt die Vermutung schon mal nahe, dass für diesen Patienten das Durchlaufen des psychotherapeutischen Prozesses nicht allererste Priorität haben könnte.
Erfahrungsgemäß lassen sich die intrinsischen Motivationsanteile des Patienten eher stärken, wenn man in der Einrichtung mit der Implikation arbeitet, es sei vom Patienten ausgesprochen lebensklug, den Forderungen des Gerichtes zu folgen. Grundsätzlich hätte er ja auch die Freiheit gehabt, der Bewährungsauflage nicht zu folgen und in Haft zu gehen. Der Patient könne ja prüfen, ob eine professionelle Behandlung seiner Alkoholprobleme ohnehin angestanden hätte; durch die Intervention des Gerichtes hätte sich jetzt für den Patienten die Gelegenheit gegeben, sich zu diesem Zeitpunkt für eine Behandlung zu entscheiden.
Mit einer solchen Argumentation wäre gewissermaßen die Beweislast wieder beim Patienten: Er müsste deutlich machen, dass er keine Maßnahme zur Rehabilitation möchte. Diesem Wunsch wäre konsequenterweise dann auch zu entsprechen, wenn er denn formuliert wird. Auf gar keinen Fall sehen Mitarbeiter der therapeutischen Einrichtung es als ihre Aufgabe an, eine gerichtliche Entscheidung zu vollstrecken; das ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft.
Wenn Mitarbeiter einer therapeutischen Einrichtung sich professionell damit beschäftigen, Patienten zu vermehrter eigenverantwortlicher Gestaltung ihres Lebens zu ermuntern, besteht die Gefahr, dass Sie einen Patienten vor Haft schützen wollen – dort wären ja die Bedingungen zur eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens außerordentlich gering. Wer die Macht der Argumente in diesem Sinne einsetzt, läuft Gefahr, vom Patienten als Einrichtung zur Haftvermeidung missbraucht zu werden. Diese Position ist unbedingt zu vermeiden.
Weniger eindeutig ist die Situation, wenn betriebliche Beratungsstellen oder Betriebsärzte im Auftrag von Arbeitgebern oder Dienstherren einen Patienten dringend zur Aufnahme einer Behandlung raten.
Manch ein Patient sieht zuerst das Machtgefälle zwischen seinem Arbeitgeber oder Dienstherrn und ihm selbst und erst an zweiter Stelle seine Chance zur Bewältigung oder Klärung eines Alkoholproblems. Aus der Sicht von Mitarbeitern einer Therapieeinrichtung kann es verführerisch sein, stellvertretend die Machtposition des Arbeitgebers oder Dienstherrn beziehungsweise seiner Repräsentanten wie z.B. betriebliche Beratungsstellen bzw. Betriebsarzt zu übernehmen – der Patient würde dann in der Einrichtung schon leichter „führbar“ sein. Aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens ist auch diese Position von therapeutischen Mitarbeitern unbedingt zu vermeiden: Es bleibt die Entscheidung des Patienten, sich den Forderungen von außen zu beugen oder es bleiben zu lassen.
Aus der Sicht der Selbstmanagement-Therapie und aus der Sicht des beschriebenen Vorgehens kann es sogar ausgesprochen sinnvoll sein, die vermeintliche Ohnmacht des Patienten gegenüber Arbeitgeber oder Dienstherrn zu verringern, indem man ihn auf die Möglichkeit einer Rechtsberatung aufmerksam macht. Dann ist für den Patienten die Grundlage verbreitert, sich für oder gegen eine Behandlung zu entscheiden.
Die Machtausübung über Zugang zu Informationen ist ebenfalls nach Möglichkeit gering zu halten. In der Praxis wird es vermutlich nicht erreichbar sein, dass Patienten und Therapeuten über alle Belange der Therapie vollständig gleichberechtigt verhandeln; der Informationsvorsprung der therapeutischen Mitarbeiter durch Ausbildung und Erfahrung ist dafür einfach zu groß. Der Therapeut kann nur maßvoll umgehen mit seinem Informationsvorsprung und sich bemühen, dass die subjektive Sicht des Patienten möglichst wenig von Gefühlen