Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Hau ab! Flüchtlingskind! - Birte Pröttel

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da eine Puppe rein passte! Schuhe in der Schachtel, die ich ausgepackt habe! Schuhe! Mit roten Holzsohlen ... Ich zieh sie an und trete Christian ans Schienbein. Er schreit und ich krieg eine geknallt. Heiliger Abend!

      Garantiert hat man mich in der Klinik verwechselt, da bin ich mir jetzt aber wirklich sicher. Ein eigenes Kind quält man nicht so. Arne hat Muttis Locken, Christian ihre Grübchen und beide haben dunkle Haare wie sie. Nur ich bin blond, blauäugig und blöd, wie meine Brüder meinen. Und wenn ich meine Familie betrachte, Großmutter Martha Anna ist klein, faltig und o-beinig, Bestemor, also Martha Wilhelmine ist groß und dick und Großvater hat eine Glatze. Und das zerknitterte Passbild vom Vater, das Mutter immer mit sich rumschleppt, hat auch keine Ähnlichkeit mehr mit mir. Nee, mit denen habe ich nichts zu tun.

      Ich will weinen. Aber ich weiß: Ein deutsches Mädchen muss tapfer sein und es ist Krieg und da jammert man nicht rum. Ich muss, wie alle auf den Frieden warten. Was auch immer das ist, Frieden. Und bis dahin sollte ich meinen Kummer runter schlucken.

      „Freust du dich denn gar nicht?“ fragen Mutter und Emma hinterhältig und genießen meine Verzweiflung. Ich drehe ihnen den Rücken zu und spiele mit einem roten Apfel, der am Baum hängt. Ich tu, als höre ich sie nicht. Weihnachten ist blöd. Nie wieder mag ich Weihnachten und im Sommer, wenn es nicht mehr so kalt ist, suche ich meine richtigen Eltern, jawolllll!

      „Ja, dann guck doch hinter den Sessel!“

      Ich zögere, dann schaue ich durch meine Tränen hinter den sperrigen, roten Plüschsessel und da ist das Glück! Ein kleines weißes verschnörkeltes Himmelbettchen. Darin liegt sie, meine Puppe. Ein süßer, zart schimmernder Porzellankopf, Schlafaugen mit langen Wimpern. Bauch, Arme und Beine sind aus weichem, rosafarbenem Trikotstoff, aus Muttis Höschen. Hab ich doch richtig gesehen, als sie das genäht hat. Als ich sie fragte, was sie da macht, sagte sie: „Nix, und sei nicht so neugierig!“

      Hab ich aber doch genau gesehen, das waren Arme, Beine und Bauch und nicht Babysachen.

      Aber ich kann mich komischerweise über die Puppe und das süße Bettchen nicht freuen.

      „Ihr seid gemein!“ ich laufe aus dem Zimmer. Meine neuen Holzsohlen hallen im Flur wie Flakfeuer. Klack, klack, klack.

      Ich heule mich erst mal richtig aus. Großmutter Sommer setzt sich zu mir auf die Stufen und nimmt mich ganz still in den Arm, bis ich mich beru­higt habe. Auch sie ist an diesem Abend unglücklich, schließlich war sie die Herrin des Gutshofs. Jetzt ist sie nur noch lästige Schwiegermutter, die beim Treiben drinnen im Salon nur stört.

      Als ich dann zurück klappere und trotzig so tun will, als würde ich mich über Puppe und Bettchen nicht freuen, halte ich das nicht lange durch. Selig schließe ich mein Baby in die Arme und in glücklich wie noch nie in meinem kurzen Leben. Die Puppe hat mir aber noch viel Kummer gemacht.

      Mit dem Fahrrad ins Wochenbett

      Wenn mich etwas nervt, werde ich hysterisch und ausgesprochen ungerecht gegen alle und mich. Mutter wurde sehr laut oder ganz still. Je schwieriger die Situation war, desto stiller wurde sie. Sie hat den Fatalismus erfunden und nichts und niemand konnte sie von ihrer stoischen Ruhe abbringen, wenn sie wusste, an der Situation jetzt ist nichts zu ändern. Sie nahm die Dinge, wie sie sind, jammerte nicht viel rum.

      „Jammern macht nicht satt!“ sie ist durch und durch pragmatisch.

      Sie und ihr Hans hatten sich immer einen Stall voll Kinder gewünscht. Jetzt meldet sich Kind Nummer vier. Großmutter hatte versprochen, zum Geburtstermin des unerwünschten neuen Enkelkindes anzureisen und zu helfen. Nun ist es aber noch acht Wochen hin bis zum errechneten Termin und die Fahr- und Telefonverbindungen klappen auch nicht mehr richtig.

      Tante Inge bedauert süffisant, sie kann niemanden als Begleitung für Hanna entbehren. Autos sind beschlagnahmt für die Offiziere. Inge lächelt aufmunternd:

      „Das schaffst du schon. Das sind bestimmt nur Senkwehen, das kennst du doch von all deinen vielen Schwangerschaften. Du bist doch sonst auch nicht zimperlich! Nimm das Fahrrad von Karl-Hans und schenke dem Führer noch ein Kind, dann kriegst du ja auch das Mutterkreuz!“

      Hanna stülpt sich stumm die eben fertig gewordene rote Häkelmütze über die Locken, wickelt den Schal mit der Öse zum Durchschieben des anderen Endes um den Hals. Sie wendet sich ab, schaut keinen an, verabschiedet sich nicht von uns und geht hinaus.

      Es wird schon früh dunkel an diesem 12. Januar 1945 über dem tief verschneiten Land. Mühsam kämpft Hanna sich auf dem Herrenfahrrad über vereiste Wege zur Hauptstraße. Sie will ins Krankenhaus der nahen Kreisstadt. Eisnadeln peitschen waagrecht ins Gesicht der zarten, hochschwangeren Frau. Hier ziehen bereits endlose Flüchtlingstrecks über die pommersche Ebene aus Ostpreußen „heim ins Reich“ nach Westen. Der Russe treibt sie vor sich her.

      Der Wind bläst Mutter fast vom Fahrrad. Immer wieder muss sie anhalten, absteigen. Sie krümmt sich vor Schmerzen. Irgendwas stimmt nicht. Sie fürchtet, dass das Baby schon zur Welt will. Acht Wochen zu früh! Sie spricht mit sich, mit dem Kind: Halt durch, wir schaffen es. Bleib bei mir, dann wird alles gut. Ob nur der scharfe Wind ihr die Tränen in die Augen treibt in dieser Januarnacht 1945? Wer weiß es?

      Mit letzter Kraft erreicht sie die Stufen des Krankenhauses. Hier stauen sich Menschenmassen. Flüchtlinge aus dem Osten. Erfrorene Zehen, wund gelaufene Füße, todkranke Babys, sterbende Alte. Alles erhofft Hilfe.

      Auch Hanna. Aber es ist zu spät, die Fruchtblase platzt. Das Baby, ein kleines, unreifes Mädchen, will mit aller Gewalt leben, will in diese kalte, grausame Welt. Niemand gibt dem Baby eine Überlebenschance. Aber es will da sein, bevor die Russen da sind. Kaum aus dem warmen Mutterleib geschlüpft, muss es bei Bombenalarm in den Krankenhauskeller mit all den anderen Kranken und Verwundeten.

      Kindliche Aufklärung

      Für uns ist Mutter seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. Niemand uns erklärt, dass in Mutters Bauch ein Geschwisterchen wächst. Oder dass wir gar den Bauch anfassen und die Bewegungen unseres neuen Babys fühlen dürften, war einfach undenkbar. Aufklärung gab es zu keiner Zeit. Mich klärte später mein großer Bruder auf. Er erzählte, dass Männer „ihre Tage“ bekommen und dass sie dann am Popo bluten. Den Rest an Aufklärung hab ich mir dann Jahre später aus Knaurs-Lexikon und aus dem Missgeburtenbuch meiner Freundin Suse geholt. Suses Mutter war Hebamme. Wir haben heimlich auf dem Dachboden diese gruseligen Bücher studiert. Dazu naschten wir eingemachte Pfirsiche aus den Gläsern im Regal. Damit wir besser lesen konnten, wurde ein Dachziegel aus dem Dach gezogen. Die Bücher waren später nicht nur vom Pfirsichsaft, sondern auch vom Regen ziemlich ramponiert. Gott sei Dank, hat man uns nicht verdächtigt. Eines Sonntags morgens, ich hatte mich schon, wie oben gesagt, über alles Wichtige von den Bienchen und Blümchen selber aufgeklärt, da rief Vater mich zu sich.

      „Setz dich, Kind! Ich muss was Wichtiges mit dir besprechen. Du weißt doch, dass die Babys im Bauch der Mutter wachsen ...“

      Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich.

      „Ja..?“

      „Ja und weißt du auch wie sie ...“ Vater stammelte. Mir war das peinlich für ihn und schnell unterbrach ich ihn:

      „Vati, ich weiß alles!“

      „Dann ist ja gut!“ Vater fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. Aber wie es wirklich war mit dem Kinderkriegen, davon hatte ich keine

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