Summer of 86. Anja Kuemski
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»Woher weißt du das? Plaudert ihr manchmal nett miteinander?«
»Sei nicht albern, Clemens. Ich will dir doch nur helfen.«
Er hätte ihr gern an den Kopf geworfen, dass er ihre Hilfe weder brauchte noch wollte. Aber das stimmte nicht. Sie war sein Vormund. Wenn es seiner Schwester mit ihm zu bunt wurde, dann konnte sie dafür sorgen, dass er in ein Heim kam. Das musste er unter allen Umständen verhindern. Also gab er sich zerknirscht und ließ die Schultern hängen.
»Ich weiß. Aber ich habe das Gefühl, ich vergesse sie viel zu schnell.«
»Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Das ist normal. Du bist erst sechzehn. Mama würde wollen, dass du nach vorn schaust und dein eigenes Leben lebst.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte er halbherzig. Ihr zuzustimmen war erfahrungsgemäß der schnellste Weg, sie loszuwerden.
Er goss sich eine Tasse Kaffee ein, räumte alle Utensilien wieder weg und putzte über die Anrichte. Er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, um zu wissen, dass Annette ihn kopfschüttelnd beobachtete. Was konnte er dafür, dass andere Jungs in seinem Alter schlampig und unordentlich waren? Er bevorzugte es, alles beim nächsten Mal wieder so vorzufinden, wie es sein sollte.
Mit seinem Kaffee in der Hand wollte er die Küche verlassen, aber Annette war noch nicht fertig.
»Du willst doch nicht die ganzen Sommerferien in deinem Zimmer verbringen, oder?«
»Hatte ich nicht gerade eben erwähnt, dass ich nach der Schule auf dem Friedhof war?«
»Ich meinte, außer dem Friedhof. Was machen denn die anderen Jungs aus deiner Klasse so in den Ferien?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Habt ihr euch nicht darüber unterhalten?«
Dieses Mal war es an Clemens, schicksalsergeben zu seufzen.
»Annette, wie oft muss ich es dir noch sagen? Ich gehöre nicht gerade zum erlauchten Kreis meines Jahrgangs. Niemand erzählt mir, was er oder sie im Urlaub macht. Und um ehrlich zu sein, bin ich echt froh darüber, denn es interessiert mich nicht die Bohne.«
»Ach komm, es wird doch wohl irgendjemanden in deinem Jahrgang geben, mit dem du redest.«
Clemens zuckte mit den Schultern. Es störte ihn nur äußerst selten, als verschrobener Außenseiter zu gelten. Meistens hatte er mit den Interessen seiner Mitschüler ohnehin nichts gemeinsam. Und sie waren allesamt viel zu neugierig. Es reichte schon, wenn Annette ihn ständig löcherte, das musste er nicht auch noch in der Schule haben.
»Was ist denn mit dem netten Jungen von den Füchtenschnieders? Mit dem hast du dich doch immer ganz gut verstanden, oder nicht?«
Clemens starrte seine Schwester fassungslos an. Wie konnte sie so zielsicher bloß jedes Fettnäpfchen finden?
»Meinhard und ich gehen uns aus dem Weg«, sagte er kurz angebunden.
»Aber warum denn?«
»Das ist meine Sache. Sonst noch was?«
Annette schien ernsthaft darüber nachzudenken.
»Ich nehme an, es wäre meine Pflicht, die Frage nach deinem Zeugnis zu stellen. Aber ich weiß, dass du ausgezeichnete Noten bekommen hast, also spare ich mir das.«
Clemens wartete wortlos ab, wohin das führen würde.
»Du hast doch ausgezeichnete Noten bekommen, nicht wahr?« Sie wirkte ein wenig besorgt. »Diese ganze Sache mit dem verlorenen Schuljahr, die spielt keine Rolle mehr, richtig?«
Wortlos öffnete Clemens seine Ledermappe, holte das Zeugnis heraus und reichte es seiner Schwester. Sie überflog es rasch und atmete erleichtert aus.
»Dein Vertrauen in meine geistigen Kapazitäten ist doch nicht so groß, was?« Er steckte das Zeugnis wieder ein.
»Niemand würde dir einen Vorwurf machen, wenn du nach dieser …«, sie machte eine allumfassende Geste, »nach dieser Sache mal einen Durchhänger hättest.«
»Doch, ich. Annette. Ich würde mir einen Vorwurf machen. Außerdem verblödet man nicht, nur weil man trauert.«
»Aber man ist abgelenkt.«
Clemens wusste nicht, wie er seiner Schwester verständlich machen sollte, dass sein Gehirn so nicht funktionierte. Dass es in seinem Kopf anders aussah, als bei den meisten Menschen, war ihm schon lange bewusst. Es zu erklären, hatte stets nur Spott oder Unverständnis hervorgerufen. Daher zuckte er als Reaktion nur noch müde mit den Schultern und schlurfte Richtung Tür.
»Wie wäre es, wenn du am Wochenende mitkommst?«
Clemens blieb stehen und schaute seine Schwester entgeistert an. Auf so eine absurde Idee war sie noch nie gekommen. Offenbar hatte sie das Gefühl, ihn zu vernachlässigen.
»Steht eine Kontrolle vom Jugendamt an oder warum legst du dich so ins Zeug?«
Annette schob schmollend ihre Unterlippe vor, was Clemens mit einem unbeeindruckten Augenrollen quittierte.
»Das ist gemein. Ich will doch nur, dass du dich mal ein bisschen amüsierst.«
»Indem ich mit meiner älteren Schwester ausgehe? Hast du Drogen genommen? Wie kommst du auf so einen abwegigen Gedanken?«
»Du sollst ja nicht mit mir allein ausgehen. Wir wären zu fünft oder zu sechst. Aber wenn es dir lieber ist, können wir auch etwas zu dritt unternehmen, nur du, Michaela und ich.«
»Aha.«
»Wir wollen am Samstag erst ins PC69 und anschließend vielleicht noch ins Zazoo.«
»Was auch immer das ist.«
»Eine Disco. Tu doch nicht so weltfremd. Ich wette, du würdest da total gerne mal hingehen, traust dich aber nicht, das zuzugeben.«
»Warum erfordert es Mut, da hinzugehen?«
Annette winkte ab.
»Ich geb's auf. Du willst unbedingt bockig wie ein Fünfjähriger deine gesamten Sommerferien in deinem Zimmer verbringen. Davon kriegt man Pickel. Was genau machst du da eigentlich die ganze Zeit?«
»Das geht dich nichts an.«
»Aha!«
»Nichts aha. Wage es ja nicht, mein Zimmer zu betreten.«
Annette musterte ihn ernst. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Nein, tue ich nicht. Wir haben eine Abmachung und ich halte mich dran. Es sei denn, Rauchschwaden ziehen irgendwann mal durchs Haus. Dann ist die Abmachung null und nichtig.« Sie lächelte ihn versöhnlich an.
Clemens nickte dankbar und verließ die Küche. Trotz aller Auseinandersetzungen und Probleme, die sie miteinander hatten, konnte er sich immerhin auf Annettes Integrität verlassen. Es gab keine Schlüssel