Traumspuren. Nadja Solenka
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Vielleicht sollte ich versuchen, mir durch Greenpeace einschlägiges Material zuschicken zu lassen. Mit diesem Artikel würde ich dann mit hundertprozentiger Sicherheit den Durchbruch als Star-Journalistin haben, und mit Karla in Zukunft nicht mehr so finanziell am Boden sein müssen. Bei diesen Überlegungen angelangt, aß ich akribisch das Brötchen von Karla, das sie nicht aufgegessen hatte.
Plötzlich klingelte das Telefon. Ich raste die Holztreppe hinunter und nahm den Hörer ab. Meine Ex-Schwiegermutter war am anderen Ende. Ich benannte sie so, auch wenn sie nie meine wirkliche Schwiegermutter war, und nun titulierte ich sie eben als meinen Ex-Drachen. "Hallo, Luise. Hier ist Käthe, ich wollte mal wissen, wie es euch so geht?", flötete sie mit ihrer melodischen Stimme in den Hörer. Mit Käthe war ich immer noch in Kontakt, wenn auch wenig, weil sie Karla über alles liebte, aber mich zu oft stehen ließ. "Es geht uns ganz gut, besser kann es uns nicht gehen", log ich wie gedruckt. "Ich wollte euch beiden einen Vorschlag machen … ." Käthe tat wirklich sehr geheimnisvoll. „Ich mag das aber nicht am Telefon erzählen, willst du nicht Übermorgen zum Kaffee zu mir kommen, dann besprechen wir alles weitere?" Gerne wollte ich. Meldete sich bei Käthe nun das schlechte Gewissen? Ihren Sohn empfand ich nicht als Vater, es war ja irgendwie nahe liegend, dass sie bei Denis irgendetwas falsch gemacht haben musste.
Nach einem unergiebigen Plausch über Käthes Gelenkwehwechen und Familienklatsch gerade noch erträglicher Sorte, stellte ich überrascht den Hörer wieder auf die Station. Was Käthe mir wohl anbieten wollte? Ich war neugierig, schon allein aus diesem Grund wollte ich nicht Nein sagen.
Ich dachte wieder an Denis und spontan wollte ich wieder zu einer Zigarette greifen. Aber noch in der Bewegung zur Zigarettenpackung hielt ich inne. Ich spürte, dass mein Magen sehr empfindlich auf die Erinnerungen reagierte. Also sagte ich mir: Rauchen ist gänzlich überflüssig. Ich fühle mich ruhig, zufrieden und geborgen; Magenkanal arbeitet völlig normal. Überall und jederzeit finde ich Freiheit, Sicherheit und Geborgenheit. Ich bin empfinde mich als ruhig und sicher. Mein Magen- Darmtrakt arbeitet ganz frei! Diese Formel, die ich mir aus einem Buch für autogenes Training extra umformuliert hatte, wollte diesmal nicht so richtig greifen. Wie stark ich mir auch diese Formel verinnerlichte, es klappte nicht. Hektisch zündete ich mir also eine Zigarette an und pustete hastig den Rauch aus.
Viel zu viele Erinnerungen über die Vergangenheit kamen hoch und es fehlte mir gerade jetzt jemand, der mich trösten konnte. Ich hatte mir den meisten Besuch abgeschafft, wegen ihren Wünschen sich unentwegt nur aus sich selbst heraus auf ihr geerdetes Selbst zu beziehen, um Gott unentwegt sich selbst gefallen zu lassen. Wenige Freunde waren mir eh nur gewesen, nachdem Denis mich so verlassen hatte.
Vor mir lag das Buch "Schicksal als Chance", das ich momentan las. Ohne groß zu überlegen griff ich mir Thorwald Dethlefsen Buch, und schlug es beim Lesezeichen auf. Ich las unter der Kapitelüberschrift "Das Gesetz des Karma": "(...) Wirkungszusammenhang zwischen den Taten der Vergangenheit und dem aktuellen Schicksalsablauf nennt man allgemein das Karma. Karma ist das Gesetz des Ausgleichs, das dafür sorgt, dass der Mensch immer wieder mit demselben Problemtypus konfrontiert wird, bis er durch sein Handeln das Problem erlöst und sich der Gesetzmäßigkeit untergeordnet hat. Hierdurch wird jede Handlung, sogar jeder Gedanke unsterblich und unauslöschlich. Denn alle Taten und Gedanken warten darauf, durch eine Gegenbewegung kompensiert zu werden."
Zornig schob ich mir eine Locke hinters Ohr. Ja, ich war bisher immer mit demselben Problemtypus konfrontiert gewesen und zwar mit demselben Problemtypus Mann. Aber jetzt wollte ich eine geeignete Gegenbewegung starten. Würde ich bei mir und nur bei mir anfangen. Anfangen mich von anderen unabhängig zu machen. Ich wollte lernen, ganz ich selbst zu sein, denn was kam schon dabei heraus, wenn man sein Schicksal nicht begreift? Auch ich wollte mich darin nicht einbringen, aber nur wenn es mir nicht gut ging.
Karla tapste die Treppe herauf, setzte sich auf meinen Schoß und drückte mir zärtlich und unbeholfen einen Kuss aufs Kinn. Dann fragte sie: "Mama, wo ist mein gelber Flummi.“
Ja verflixt nochmal, wo war der gelbe Flummi eigentlich?
4. Kapitel
Manchmal schneit es Anfang April noch, und dann senken sich weiße Flocken auf die Felder und Wiesen, auf den Asphalt und überall hin, hüllen alles in eine gnädige, flauschige Hülle. Manchmal verwandelt sich danach wieder alles recht schnell in eine schmutzige Welt.
Ich saß nur so für mich in einem Cafe, in dem ich als Studentin oft meine freie Zeit verbracht hatte, und das war viel Freizeit gewesen. Hier versuchte ich nun mit mir ins Reine zu kommen, wollte mir einfach nicht mehr die Kontenance geben, mein Liebesaus mit Denis zu betrauern. Aber alles um mich herum lenkte mich ab.
Wie ich sie um ihre Freiheiten beneidete, die Studenten und Studentinnen, die am Nebentisch über Gott und die Klimakatastrophe debattierten.
Sie wussten gar nicht, wie gut sie es doch hatten. SIE konnten sich kochen, wann und was sie wollten. SIE konnten fast jederzeit einen Stadtbummel unternehmen, spontan ins Kino oder in Kneipen gehen, und sich unmögliche Klamotten anziehen, ohne dass irgendwelche Kindergartentanten die Nase rümpften. Sie konnten blass, dick, dünn sein, indifferent oder jähzornig und keiner würde sagen, was für eine schreckliche Mutter, oder ach, das arme Kind.
Das Leben ging weiter, sagte ich mir. Nebenan wurde nun über einen Streik heftig diskutiert, über die lächerlich geringen finanziellen Mittel für die "Studierenden", und die Überalterung des Lehrmaterials. Denen ging es doch nicht schlecht, dachte ich voller Selbstmitleid, und sie wissen gar nicht, wie gut es ihnen wirklich ging. Selbstgefällig und gnädigst grinste mir über seiner Kaffeetasse ein Student mir Brille und Zopf entgegen. Es wurde Zeit zu gehen, das war nicht mehr mein Alter, meine Welt, das merkte ich.
Wenn Gott einen Menschen sehr liebt, dann erfüllt er einem einen lang gehegten Traum und dann nimmt er nicht Rücksicht darauf, ob man gerade vorhat, allein gegen den Sturm, das Schicksal, und gegen das Leben im allgemeinen anzurennen.
Käthe hatte von ihrer 90Jährige Tante viel Geld geerbt und wollte sich einen Wunsch verwirklichen, eine Reise nach Mallorca. Und Karla und meine Wenigkeit sollten mitkommen!!!!
Die alte Dame saß an dem blank polierten, schlanken Kirschholztisch und schenkte mir, ihrer Ex-Schwiegertochter, Tee nach. Karla tobte draußen auf dem englischen Rasen herum und begann ihre Füße in den Zierteich zu stecken.
Käthe sagte: "Na, was sagst du dazu Luise ...?" Und: "Oh schau mal was Karla da macht, ich muss mal eben raus ... ."
So hatte ich also Zeit zu überlegen, während Käthe mit Karla draußen kämpfte. Was sollte ich schon dazu sagen, vielleicht den blöden Spruch, wer kann dazu schon nein sagen? Ich wollte, und wie ich wollte.
Die lila getönte, sorgfältig gelegte Frisur meiner Ex-Schwiegermutter war durch das Gerangel mit ihrer Enkelin völlig in Unordnung geraten. "Also was ist, kommt ihr nun mit?", fragte Käthe, als ich neben ihr im Garten stand.
Ich nahm ihr meine rot-verschwitzte, fürchterlich trotzige und wie am Spieß brüllende Tochter ab und sagte: "Wann können wir fliegen?"
Koffer ließen sich ganz schnell packen, vor allem, wenn man das Bedürfnis hatte, einfach nur herauszukommen, aus der Öde, der Leere und dem freien Fall. Chaotisch war ich zwar, dass musste ich zugeben, aber eines wusste ich aus unzähligen Reisen zuvor, für Ferien musste man in erster Linie drei Dinge unternehmen, die zwingend mit dazugehörten: Die Krankenkarte mitnehmen, an Creme gegen Mücken denken, und Sonnenöl kaufen.