Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Die vergessenen Kinder - Herbert Weyand

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Jetzt bin ich natürlich neugierig.“ Sie lächelte grimmig.

      „Ach“, er winkte ab. „Das sind zahnlose Tiger. Das weißt du doch. Die sind auf das Husten von Flöhen programmiert.“

      „Hast du einen Zoologiekurs absolviert?“

      „Du weißt, was ich meine“, er grinste verschmitzt. „Hunde, die bellen, beißen nicht. Im Moment wird das Gelände abgesperrt.“

      „Was machen die jetzt eigentlich?“, fragte sie.

      „Keine Ahnung. Die schicken jemanden dort hinein oder reißen ganz einfach weiter ab.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich mach‘ uns einen Kaffee.“ Er werkelte an der Senseo Maschine herum. Normalerweise brühten sie Kaffee, aber so im späten Nachmittag konnte es auch einmal schnell gehen.

      Kurt war einer der Männer, die alles Selbst machten. Ein Allroundtalent, das schon einmal etwas falsch machte … was dann teurer wurde, als wenn er von vornherein den Handwerker geholt hätte. Auf jeden Fall beherrschte er seine Küche und das war ja schon viel für einen Mann.

      „Ich spring‘ schnell unter die Dusche“, schmunzelte Claudia bei ihren Gedanken und zählte. Sie kam bis zwei.

      „Da komm‘ ich aber mit. Den Kaffee mach‘ ich später.“ Er ließ bewusst lüstern seinen Blick über ihre Figur gleiten.

      „Ich bin zuerst oben“, rief sie und spurtete schon die Treppe zum Bad hoch. Er jagte hinterher und packte sie im Flur. Unten schrillte das Telefon. Claudia zuckte zusammen, ergab sich jedoch Kurts Liebkosungen.

       *

      Bericht der vergessenen Kinder I (1944) Klaus

       Plötzlich hört der Bombenlärm auf. Die Erde bebt nicht mehr. Langsam werden die Kinder unruhig.

      „Ich schau‘ mal nach der Tür“, sage ich, einer der beiden Erwachsenen, die mit den Kindern im Schutzkeller sind.

      Seit wenigen Tagen dokumentiere ich unsere Eindrücke und Erlebnisse, in der Hoffnung, eines Tages an die Oberfläche zu gelangen. Falls dies nicht gelingt, gebe ich den Geschichtsschreibern zunächst ein Bild von mir, eine kurze Beschreibung meiner Person:

      Ich bin untersetzt und trage kurzes krauses Haar. Um meine grauen Augen liegen schon ein paar Falten. Was will ich als Fünfzigjähriger mehr erwarten. Aufgrund einer Beinverletzung bin ich an der Heimatfront. Zu Beginn des Krieges arbeitete ich auf der Zeche Carolus Magnus. Später hatte ich den Arbeitsunfall. Unter Tage, in einem Streb knickte eine Stütze weg und klemmte mein linkes Bein ein. Erst mehrere Stunden später wurde ich befreit. Ärztliche Kunst und mein eigener Wille bewahrten mich zwar davor, das Bein zu verlieren, jedoch war es so gut, wie gebrauchsunfähig. Danach habe ich nicht mehr unter Tage auf der Zeche gearbeitet und wurde Übertage für das Ausbauholz der Flöze zuständig. Eine reine Schreibtischarbeit.

      Aus heiterem Himmel machte ich eine Erbschaft, die mir sehr viel Geld bescherte. Ich möchte nicht näher auf Einzelheiten eingehen. Mein neuer Reichtum machte mich unabhängig und gab mir Möglichkeiten, dass ich Nachbarn unterstützend unter die Arme greifen konnte. Die meisten Bewohner unseres Dorfes sind in der Landwirtschaft tätig und abhängig vom Erfolg der jährlichen Ernte. Einige hatte es schon auf die Glaswerke in Herzogenrath verschlagen und andere, wie mich, auf die umliegenden Zechen. Ich erwarte keine Dankbarkeit und ganz ehrlich gesagt beabsichtige ich nicht, die geliehenen Summen jemals einzufordern. Wie gesagt, es war sehr viel Geld, das mir in den Schoß fiel. Aber eben nur Geld.

      Ich bin nicht verheiratet. Nicht, dass ich aussehe wie Nosferatu, es ergab sich einfach nicht, vielleicht, weil ich wenig gesellig bin und weder der freiwilligen Feuerwehr noch einem anderen Verein angehöre. Natürlich kenne ich die ein oder andere willige Frau. Doch ich bin diskret, und zwar so, dass ich den Ruf habe, dem anderen Ufer anzugehören. Das schert mich nicht. Obwohl 1942 die, von den Nazis unterwanderte Polizei von mir wissen wollte, ob ich schwul sei. Jemand hatte mich damals angezeigt. Da musste ich leider die Diskretion aufgeben, um Referenzen zu erhalten.

      Meinen Bericht halte ich so sachlich wie möglich. Die Emotionen, die wir hier erleben sind, für jeden nachvollziehbar, deshalb werde ich sie auf ein Mindestmaß beschränken. Weitere Informationen zu mir werde ich einfließen lassen.

      Ich humpele also zum Ausgang und betätige die dortige Schleuse, die in einen kleinen Vorraum führt. Kaum schwingt die Luke auf, sehe ich die Bescherung. Erdreich hat die metallene Eingangstür nach innen gedrückt. Oben muss mehr passiert sein, als wir hier unten mitbekommen haben. Wir müssen also warten, bis Hilfe von oben kommt. Schulterzuckend wende ich mich ab. Hilfe würde kommen, da war ich sicher. Auch, wenn es nicht um mich geht … schließlich sind die Kinder hier.

      „Tilde, die Tür nach draußen ist verschüttet. Wir müssen warten, bis Hilfe kommt.“

      „Eingeschlossen? Das ist ja furchtbar. Wir haben neunundzwanzig Kinder hier.“ Sie schreit ihre Angst heraus. Eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, deren Mann, irgendwo in Europa, an der Front ist. Sie haben vor Kurzem geheiratet, eine Nottrauung, wie sie zurzeit häufig vorkommt. Der verdammte Krieg veränderte alles. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Ehe vollzogen haben. Am Tag der Hochzeit war der Bräutigam so blau, dass es an ein Wunder grenzt, wenn er in der Nacht einen hochbekam. Am nächsten Tag war er schon wieder auf dem Weg an die Front. Tilde ist eher der mütterliche Typ mit rosigen Wangen und halblangem braunen Haar. Ihre Figur ist von harter Arbeit auf den Feldern geprägt. Stramme Schenkel und Oberarme. Eine Frau, die zupacken kann. Aber selbst fast noch ein Kind. Im Moment steht das blanke Entsetzen in den braunen Augen. „Herr Heinen, was sollen wir jetzt tun? Ich will noch nicht sterben.“

      „Ich auch nicht. Halb so schlimm“, beruhige ich sie. „Ich war zwanzig Jahre unter Tage, bis das mit dem Bein passierte. Wir sind sicher. Der Betonklotz hält ewig.“

      „Ihr Wort in Gottes Ohr“, sie bekreuzigt sich. „Ich habe dennoch Angst.“

      „Kannst du auch.“ Ich lege begütigend meine Hand auf ihre Schulter. „Doch jetzt kümmerst du dich um die Kinder. Ich sehe mal nach, was dort hinten ist.“ Natürlich geht mir auch die Muffe. Doch die Zeit auf der Grube, wo es neunhundert Meter in die Tiefe ging, hat nun ein Gutes. Ich sieze Tilde nicht, weil ich sie seit ihrer Kindheit kenne.

      Wir haben einige Karbidlampen, von denen ich eine Zweite anzünde. Die andere muss bei Tilde und den Kindern bleiben. Ich gehe weiter in den Keller hinein und verschwinde hinter einem Vorsprung. Dazu muss gesagt werden, dass der Schutzkeller aus vier Räumen, die im Quadrat liegen, besteht und vielleicht auch als Keller für ein Haus dienen sollte. Aber nein, er besteht ja aus Kunststein, diesem Gemisch aus Sand, Steinen und Zement und dazu gusseiserne Streben. Die Decke ist nach oben gewölbt. Dadurch hält sie eine größere Drucklast. Die hintere Wand des Raumes ist eingestürzt. Die Decke wird jedoch von der Eiseneinlage gehalten. Vorsichtig räume ich Gesteinsbrocken beiseite. Sand rieselt nach. Schließlich stößt meine Hand ins Leere. Hastig räume ich mehr Schutt beiseite und leuchte mit der Lampe in ein dunkles Loch, einen weiteren Raum, den ich nicht vermutet habe. Es dauert einige Zeit und viel Kraftaufwand, bis ich den Durchbruch so weit erweitere, dass ich durchsteigen kann. Der dahinter liegende Raum ist nicht so unversehrt geblieben, wie der vordere Schutzkeller. Die Erschütterungen der Bomben – vielleicht ist auch eine direkt drauf geknallt - haben dicke Betonbrocken von der Decke gelöst. Ich überlege umzukehren, gehe jedoch vorsichtig tastend weiter. Wie sich später erweist, ein glücklicher Umstand. Der Einbruch hier ist älteren Datums. Die Bruchstellen an den Brocken sind nicht frisch. Ich zwänge mich durch einen Spalt, jeden Augenblick

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