Präludien zu Hegel. Rita Kuczynski
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Mangel an Erlebnisfähigkeit? Mangel an Naivität? Man sprach von der Altklugheit Hegels in diesen Jahren.
Hegel war viel allein seit dem Tod der Mutter. Und ganz sicher kamen auch zu ihm die Abende, die ihn durch ihre Stille gefangen nahmen und sagten: Wir haben in anderem Halt. Manchmal an solchen Abenden wuchs er hinein in ein eigenes Schweigen, das ihm die Stunden weitete. Vielleicht suchte er auf dem Weg zwischen Athen und Rom auch Geborgenheit.
Noch wartete er auf sich. Und wenn er des Nachts erwachte, fragte er auch: Wer hat all die unterschiedenen Dinge gemacht? Da diese Fragen nicht vergingen, versuchte er, sie sich durch ein Tagebuch näherzubringen, das er zu schreiben begann, als die Mutter starb.
Es kamen Jahre beziehungskarger Zwischenzeiten, sein Einverständnis in ein Alleinsein; zahlreiche Versuche, sich selbst zu erziehen und seine Gefühle als echt deutsches Beamtenkind nach Moralkompendien zu disziplinieren. Denn zu geheimnisvoll schien ihm diese Gewalt, die ihn mitunter durch die Straßen trieb und immer in anderer Gestalt erschien.
Es war diese Zeit, in der noch nicht alles entschieden war. In der er durch erste eigene Sichtung und Ordnungsversuche sich wehren wollte gegen jene Unmenge von Wörtern und Zeichen, die um ihn herumlagen, indem er sie anzuwenden begann. Denn bisher hatte er sie vor allem aufgenommen in sich, die Ideen und Grundsätze, ohne von ihnen rechten Gebrauch machen zu können.9 Sichtung und Ordnen des bisher Gelernten, Angelernten, als Anfang der Beherrschung vieler noch durcheinanderliegender Fakten. War er es doch selbst, der sich frühzeitig – unter anderem – gegen eine Geschichtsbeschreibung wehrte, die »bloß Fakta erzählt« und darüber »den Charakter eines berühmten Mannes, einer ganzen Nation, ihre Sitten, Gebräuche, Religion etc. und die verschiedenen Veränderungen und Abweichungen dieser Stücke von anderen Völkern …« vergaß.10
Man kann diese Zeit als einen Versuch erster Selbstfindung auffassen, als eine Zeit, in der Hegel all die Fremdheiten wieder einfielen, mit denen er doch von Anfang an zu tun hatte. Denn wie in jedem, so steckte auch in seinem Kopf eine Welt, ein Anspruch, der zunächst einmal alles andere ausschloss. Und wenn ihn die Bücher damals überreden konnten, bedächtig zu leben und langsam, schrittweise zu gehen, dann, weil er noch Zeit hatte, bedächtig zu sein. Der gleichmäßige Rhythmus seiner Zeiteinteilung, der kurzfristig von einem Tag auf den anderen zusammengestellte Plan für seinen Normaltag bestätigen es.
Dieser recht gleichbleibende Rhythmus seiner Tage, ihr bedächtiges Tempo führten ihn zurück in die Vergangenheit, in der er Gegenwärtigkeit suchte. Denn noch betrachtete er seine Gegenwart nicht als Hindernis, die in ihrer maßlos scheinenden Ewigkeit vernichtet werden muß. Er begann sie nur auszudehnen, diese Gegenwart, nach hinten zunächst. Dieses interessierte Vertrautsein mit den historischen Dimensionen schärfte seinen später immer wieder konstatierten »enorm historischen Sinn«. Diese selbstauferlegten Übungen, Raum und Zeit auf die von ihm gewünschte Größe auszudehnen, werden auch dazu beigetragen haben, die Relativität seiner Räume und seiner Zeit, trotz all ihrer augenblicklichen Nöte, schon damals zu ahnen.
Deshalb bestand Hegel nie auf der Unvergleichbarkeit seines persönlichen Falles. Er pflegte nicht den Hochmut der Einsamen, auf dem viele seines Alters so hartnäckig bestanden. Er empfand die Klage über die Welt nicht als ein notwendiges Attribut seiner Jugend. Auf ihm lastete die Kette von Pflichten, die seinen Alltag zusammenhielt, nicht als Druck. Ihn packte kein kosmisches Entsetzen bei der Ahnung um die eigene Begrenztheit, keine reißende Verzweiflung, die täglich neu zu betäuben ist.
Aber Hegel weiß von alledem. Denn er will wissen, wie man glücklich wird. Diese Frage setzt zumindest voraus, daß er sein Leben, so wie es abgelaufen war bisher, nicht als den Zustand »wahrer Glückseligkeit« empfand. Wissen wollte er. Nicht – noch nicht – aus Protest, sondern aus dem Verlangen heraus, die Begrenztheit seiner eigenen Existenz sinnvoll aufzuheben. Wissen wollte er, und dieses Wissen von einer Sache, einem Zustand, an deren Erkenntnis oft Generationen gearbeitet hatten, war doch schon eine Möglichkeit, seine eigene Begrenztheit aufzuheben, eine Möglichkeit, sich dauerhafter in die Welt zu weben. Wissen, Erkenntnis als Regelsystem, als Dämpfer gegenüber all den Unmöglichkeiten – die nicht nur nachts in ihm aufkamen – das war es, worauf er zeitig recht hartnäckig bestand. Zunächst einmal festhalten die paar Gewissheiten, um nicht Einbildungen zu unterliegen, dann verallgemeinern und sich ein Urteil bilden. Das war seine Art schon auf dem Gymnasium, sich dem Leben zu nähern. Und mit dem Maß eines Fünfzehnjährigen reflektiert er über das Glück: »Alle Menschen haben die Absicht, sich glücklich zu machen. Von einigen seltenen Ausnahmen, die, um andere glücklich zu machen, so viel Erhabenheit der Seele besaßen, sich aufzuopfern.« Doch diese wenigen, so glaubte er, haben »nicht wahre Glückseligkeit aufgeopfert, sondern nur zeitliche Vorteile, zeitliches Glück, auch Leben. Diese machen also hier keine Ausnahme.« Zeitliche Vorteile, zeitliches Glück, mit der vierten Dimension verstand Hegel schon umzugehen. Doch bevor er weiter nachdenkt über das, was für die Menschen, Glück bedeutet – bedeuten könnte – mußte er zunächst »den Begriff von Glückseligkeit festsetzen, ich verstehe darunter einen11 …«, er brach ab. Unordnung des Geistes war ihm verdächtig. Er ahnte Liederlichkeit.
Was folgte, war kein Entwurf für übermorgen, keine Skizze visionärer Gedanken, die das Hier und Heute nicht ertragen, kein Grundriß zum Verwurf der ordinären Gegenwart mit all ihren Verordnungen und Sackgassen. Es folgte Verständigung, Selbstverständigung, zunächst über seine Ratgeber, mit denen er über den Begriff Glück reflektieren will. Und danach? Folgte Verständigung nicht mit den Bergen, die ihm ja doch nur das zurückbrachten, was er ihnen zurief. Er suchte das Gespräch, nicht mit den Vögeln, denen er ja doch nur in imaginären Flügen hätte folgen können, bis er im Irgendwo abgestürzt wäre. Er suchte Verständigung mit den Gedanken, den Gedanken der Aufklärung durch Wissenschaft und Kunst.12 Diese Form der Verständigung schien ihm verläßlicher. Die Flugrichtung der Gedanken schien ihm korrigierbarer, auch fallsicherer, wenn die Luft schneidend wurde, wenn ihm die Worte vernichtet schienen, mit denen er die Gedanken einfangen wollte. Solche Gedankenflüge konnte er weitgehend selbst bestimmen, selbst abbrechen, andere versuchen oder notfalls auch ganz unterlassen.
Erst begreifen, dann erleben, im Begreifen erleben, im Erleben schon begreifen, auf jeden Fall vorsichtig, überlegt erleben und all die Unzumutbarkeiten zurückweisen; sich nicht irremachen lassen von der Fülle unmittelbarer Erlebnisse, von der Fülle der Einzelheiten, die das Ich Minute für Minute registriert, für die es aber oft Stunden, Tage oder gar Wochen braucht, um alle Eindrücke im einzelnen zu verarbeiten.
Woher diese Bedächtigkeit bei Hegel? Ökonomie der Gefühle? Vielleicht sollte man von einer gewissen Scheu gegenüber aller Unmittelbarkeit sprechen, vom Zurückweichen vor allem aufdringlich Direkten, entstanden aus seinen bisherigen Lebensumständen. Denn sicher ist, daß seine häusliche Erziehung stark durch intellektuelle Wertungen geprägt war.
Die Mutter liebte ihn besonders, weil er gut lernte. Sicher ist, daß nach dem Tode der Mutter der Vater wenig Zeit hatte, sich neben der Arbeit – als Rentkammerrat und späterer Expeditionsrat unter Herzog Karl Eugen – intensiv mit den zwei Söhnen Georg Wilhelm Friedrich und Georg Ludwig sowie der Tochter Christiana Louisa zu beschäftigen. Hegel wurde frühzeitig zu Privatlehrern geschickt, weil der Vater um eine allseitige Ausbildung des Sohnes besorgt war. Verbürgt ist, daß der mehr durch Fleiß als durch sichtbare Genialität auffallende Musterschüler Hegel viel Zeit zum Lernen benötigt hat. Nicht, daß er nicht spielte. Nicht, daß er nicht gern spazierenging.
Mit viel Vergnügen spazierte er in der Umgebung Stuttgarts, aber mit ebenso viel Freude ging er über die Seiten der Bücher. Das Lesen in der herzoglichen