Präludien zu Hegel. Rita Kuczynski
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Die Gedanken zollfrei. Das Glauben ungestempelt. Keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden. Keine Volksbedrücker, kein Despotismus mehr. Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise. Welch eine Utopie für die Klassengesellschaft! Denn die Gedanken zollfrei, mag ja noch gehen. Dass Glauben ungestempelt ist, auch möglich ist, solange das Glauben selbst nicht institutionalisiert wird. Aber keine Volksbedrücker, kein Despotismus – ist eine der Unmöglichkeiten für die Klassengesellschaft, an die auch die Bourgeoisie nur im ersten Taumel ihres Aufstiegs glauben konnte. Auch Gerechtigkeit für alle – nur eine Vision, die sich bald als Recht der bürgerlichen Klasse enthüllen sollte.
Dieser erste und auch die folgenden Interessenkataloge der französischen Bourgeoisie, die Menschenrechtsdeklarationen, enthielten viele utopische, das heißt für das französische Bürgertum nicht zu realisierende Forderungen. Und doch waren es auch diese utopischen Momente und illusionären Vorstellungen über die historischen Möglichkeiten einer Revolution, die die progressiven Kräfte in Frankreich einten und ihnen gemeinsames Handeln gegen die Feudalität ermöglichten. Denn hier waren Worte und Sätze gefunden für die gemeinsamen Interessen der Bürger und des reformwilligen Adels gegen den Absolutismus. Nehmen nun andere soziale Schichten diese Worte auf und geben ihnen einen ihren Interessen entsprechenden Sinn, wie es die Jakobiner unter dem Druck der besitzlosen Schichten taten, können die vorher utopischen Forderungen an Intensität gewinnen, an die die französische Großbourgeoisie selbst nicht einmal zu denken vermochte. Sie bleibt mit ihren Forderungen gefangen in den Illusionen ihrer Zeit.
Befangen in diesen ganz unbestimmten Sätzen, den abstrakt gedachten Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die das Volk zusammenschloß, auch wenn oder gerade weil sich jeder einzelne seine Vorstellung, seine Vision von Freiheit und Gleichheit unter dieser so abstrakten Losung entwerfen konnte. Und der Entwurf Hoffnung ist, eben weil es ein Entwurf ist, meist um vieles schöner als seine praktische, seine irdische Ausführung. Das mußten auch die allein an den Theorien der Französischen Revolution sich orientierenden bürgerlichen Intellektuellen in allen Ländern bald begreifen.
Doch zunächst blieb Begeisterung vorherrschend, Begeisterung darüber, daß endlich etwas geschah, daß sich etwas verwirklichte von dem, was in Theorien lange vorgedacht war. So verstanden jedenfalls die progressiven Kräfte in Deutschland die französischen Ereignisse. Ihre Tragik deutet sich an. Ihre Begeisterung sollte eine rein metaphysische bleiben, die den Theorien dieser Revolution galt. Das wurde in dem Maße deutlicher, in dem diese Revolution aus ihrer »idyllischen Phase« unabänderlich in die des offenen, durch Krieg und Bürgerkrieg gekennzeichneten Kampfes überging.
Die Revolution im Tübinger Stift
Zunächst aber herrschte Begeisterung. Und wen wundert es, daß sich der Jubel besonders stark und laut unter den Studenten erhob, waren sie es doch, die berechtigterweise glauben konnten, daß diese Welt, die da aufzudämmern schien in Frankreich, die ihre werden könnte. Eine neue, eine interessantere Welt, die sie noch jederzeit bereit und fähig waren, einzutauschen gegen die karge Gedankenwelt. Denn ihre Lehrer waren ja gerade erst dabei, sie allein ans Denken, sie ausschließlich ans philosophische und theologische Denken zu gewöhnen. Doch was ist ein theoretisches Denken, was alle Geheimnisse der Abstraktion gegen eine erdverbißne Geburt, die sich jenseits des Rheins gerade vollzog?
Da jedoch in Deutschland – und erst recht im Tübinger Stift – zur entscheidenden Stunde Entscheidendes nicht zu machen war, jedenfalls nichts Sichtbares, nichts Praktisches für diese ganz neue Welt, die da geboren wurde, mühsam, verfolgte man die Ereignisse wenigstens in den Zeitungen, den deutschen und den französischen, und feierte mit jeder neuen Nachricht, die da kam von dieser Revolution, die Zukunft. Man formte Träume, Träume aus Licht – und den französischen Nachrichten. Natürlich waren es die Studenten, die nicht wußten, wohin mit ihrer Begeisterung, und so rannten sie zunächst einmal durch die Stadt. Sie suchten in den Straßen, in den Gasthäusern der Tübinger Umgebung nach Ideen, Gründen, Begründungen und Tatsachen für die neue Zeit, die da anzubrechen versprach – eine Zeit ohne Kompromisse und Unzulänglichkeiten – so hofften jedenfalls die Studenten und mit ihnen die meisten bürgerlichen Intellektuellen in Deutschland. Das »revolutionäre Treiben« der Stiftler aber sprach sich in der kleinen Stadt bald herum, so daß sich der Herzog veranlaßt sah, im Kloster zu erscheinen, um in landesväterlicher Liebe den Studenten zu sagen, daß er besorgt sei, da sich die Stiftler trotz aller väterlichen Fürsorge undankbar zeigten und »ihre Laufbahn nicht in der vorgeschriebenen Ordnung und Anständigkeit und mit dem gebührenden Fleiße fortsetzen«, zumal das künftige Wohl des Vaterlandes – seines Landes – und der Kirche – seiner Kirche – dadurch in eine Gefahr komme, die er abzuwenden gedenke.1
Was aber ist vergeßlicher als Dankbarkeit, sollte man den Herzog fragen, insbesondere wenn man sie von Jugendlichen fordert. Ein Vorzug, den die Jugend besitzt, ist ja gerade der, daß ihr Lebensentwurf noch nicht endgültig festgeschrieben ist, daß ihre Möglichkeiten zu leben auch darin bestehen, gegen die vorgeschriebene Ordnung und Anständigkeit zu leben, eben weil diese Ordnung nicht die ihrige ist und es nicht unabänderlich werden muß. Doch was tun, wenn vorerst nichts Wesentliches, nichts Eingreifendes zu machen ist. Vielleicht – den Geist wachhalten. Das Gedächtnis trainieren. Vielleicht die Theorien, die diese Revolution vorbereiteten, noch einmal studieren, sich neu einlesen in die wichtigsten Sätze. Hören auf die Worte und Sätze, über die man vordem hinweggelesen hat. Überlegen, warum sie jetzt anders klingen. Danach vielleicht das Wesentliche und Unwesentliche an den Dingen neu bemessen und die Rangordnung des Wichtigen nochmals überprüfen. Vielleicht neben Sophokles und Platon, neben Rousseau, Schiller und Kants »Praktischer Vernunft« doch die »Reine Vernunft« lesen, schließlich diskutieren andere Stipendiaten das Buch von Kant schon einige Zeit. Vielleicht ist doch etwas an ihm, was Hegel jetzt besser verstehen kann.
Oder Locke und Hume lesen, sich ansehen, was Hume über den Zweifel zu sagen hat. Oder sollte er sich verlieben in die recht attraktive Tochter eines Theologieprofessors, die Auguste heißt. Er machte beides, sich verlieben und Kants »Kritik der reinen Vernunft« studieren, was eine recht vernünftige Relation werden konnte – zumal Fräulein Hegelmeier im Hause einer Weinstube wohnte, so daß Hegel seine gerade erst angenommene Gewohnheit, sich in Zweifelsfällen auch mit Wein und Bier zu besprechen, nicht unbedingt aufgeben mußte. Lange hält man nämlich die Liebe zur ganzen Menschheit nicht aus, wenn man nicht zugleich wahrnehmbar zu lieben vermag, fernab von aller Verstiegenheit und Abstraktion. Zu lange hält man es eben nicht durch, für die ganze Menschheit zu leben, zu leiden, zu hoffen, wenn nicht hin und wieder eine konkrete Person ins eigene Leben tritt, auf die man hoffen kann, eine, mit der man leben und leiden kann, fernab von allen platonischen Entzugserscheinungen. Und so hielt es Hegel dann auch: War das Motto des Sommers 1790 noch der Wein, so beschloß er, das Motto dieses Sommers wird das der Liebe sein.2
Aber das reicht ja alles nicht, reicht nicht aus, reichte im Falle von Hegel tatsächlich nur für einen Sommer, bis er Enttäuschung registrieren und in Reflexion auf die Hegelmeier sich schon wieder fragen mußte: »Wo fließt mir rein des Lebens Strom?«3
Was bloß machen, was nur tun?
Er beschloß, intensiver zu studieren. Ganz ohne Fleiß, ganz ohne Arbeit war ja das theologische Seminar nicht zu bewältigen. Und nach Wochen der Gewöhnung macht es ja dann auch Freude, der Lösung einer theoretischen Fragestellung näherzukommen.
Da sitzt man dann ganz ohne Zwang und merkt, daß im Zimmer am Schreibpult alles viel sicherer ist als auf der Straße, als auf dem Marktplatz oder gar in den Seminarräumen des Stifts.