Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski

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Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski

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alter Mönch, der aus einem fernen, wenig bekannten Kloster im Norden gekommen war. Er wollte sich gleichfalls vom Starez segnen lassen.

      Als der Starez auf der Galerie erschien, schritt er an allen eben erwähnten Personen vorbei und ging zunächst zum einfachen Volk. Die Menge drängte zu den drei Stufen, die auf die niedrig gelegene Galerie führten. Der Starez trat auf die oberste Stufe, legte das Schultertuch um und segnete die herandrängenden Frauen. Auch eine Schreikranke wurde an beiden Armen zu ihm hingezogen. Kaum hatte sie den Starez erblickt, begann sie unbändig zu winseln und zu schluchzen und zuckte wie bei einem epileptischen Anfall am ganzen Körper. Der Starez legte ihr das Schultertuch auf den Kopf und sprach ein kurzes Gebet über sie, worauf sie gleich verstummte und sich beruhigte. Ich weiß nicht, wie es jetzt damit steht, aber in meiner Kindheit hatte ich oft Gelegenheit, diese Schreikranken auf dem Lande und in Klöstern zu sehen und zu hören. Man führte sie zur Messe, und sie kreischten oder bellten wie Hunde, so daß es durch die ganze Kirche schallte; brachte man sie aber zum Sakrament, hörte die »Besessenheit« sofort auf, und die Kranken beruhigten sich für einige Zeit. Das machte auf mich als Kind einen außerordentlichen Eindruck und erfüllte mich mit großem Erstaunen. Aber damals hörte ich auf meine Fragen von einigen Gutsbesitzern und besonders von meinen Lehrern in der Stadt, das alles sei nur Verstellung, Arbeitsscheu, und lasse sich jederzeit durch Strenge beseitigen, zur Bekräftigung wurden allerlei Geschichtchen erzählt. Später hörte ich zu meiner Verwunderung von Fachärzten, daß es sich hierbei ganz und gar nicht um Verstellung handle, sondern um eine schreckliche Frauenkrankheit, die vor allem bei uns in Rußland auftritt und von dem schweren Los unserer Dorfbewohnerinnen zeugt! Ursache der Krankheit sei, daß nach schweren Entbindungen, die nicht ordnungsgemäß und ohne ärztlichen Beistand vorgenommen werden, zu früh wieder anstrengende Arbeit aufgenommen werde; hinzu kämen ausweglose Sorgen, Schläge und so weiter, was manche Frauennaturen nicht wie so viele andere ertragen könnten. Die seltsame augenblickliche Heilung »besessener« und um sich schlagender Frauen angesichts des Sakraments – eine Heilung, die man mir als von den Pfaffen inszenierten Hokuspokus erklärt hatte – erfolge wahrscheinlich ebenfalls auf natürliche Weise. Die Frauen, die die Kranken zum Sakrament brachten, und vor allem die Kranken selbst seien fest überzeugt, daß der unreine Geist es niemals erträgt, wenn sie zum Sakrament geführt werden und vor ihm ihre Knie beugen. Aus diesem Grunde vollziehe sich in den nervösen und natürlich geisteskranken Frauen im Augenblick des Kniefalls vor dem Sakrament eine unvermeidliche Erschütterung des gesamten Organismus, hervorgerufen durch den festen Glauben an das Wunder der Heilung. Und so trete sie denn auch ein, wenngleich nur für sehr kurze Zeit.

      Und sie trat auch jetzt ein, sobald der Starez die Kranke mit dem Schultertuch bedeckt hatte.

      Viele der ihn umdrängenden Frauen waren vom Eindruck des Augenblicks überwältigt und brachen in Tränen der Rührung und des Entzückens aus. Andere wollten wenigstens den Saum seines Gewandes küssen. Manche sprachen Gebete. Der Starez erteilte allen den Segen und ließ sich mit einigen in ein Gespräch ein. Die Schreikranke kannte er schon; sie war nicht zum erstenmal und nicht von weit her, sondern aus einem nur sechs Werst entfernten Dorf zu ihm gebracht worden.

      »Aber da ist eine, die kam von weit her!« sagte er und zeigte auf eine noch gar nicht alte, aber sehr magere, abgezehrte Frau, deren Gesicht von der Sonne verbrannt, ja geradezu schwarz war. Sie lag auf den Knien und sah den Starez starr an. In ihrem Blick lag etwas wie Verzückung.

      »Ja, von weit her, Väterchen, von weit her, dreihundert Werst von hier. Von weit her, Väterchen, von weit her«, erwiderte sie in singendem Tonfall und wiegte den Kopf gleichmäßig von einer Seite zur anderen; eine Wange stützte sie dabei mit der Hand. Ihre Worte klangen wie Klagegesang.

      Es gibt beim einfachen Volk einen schweigenden und geduldigen Kummer; er tritt in sich zurück und bleibt stumm. Aber es gibt auch einen hervorbrechenden Kummer; der macht sich einmal in Tränen Luft und geht dann über in Klagegesang. Das ist besonders bei Frauen der Fall. Aber er ist nicht leichter als der schweigende Kummer. Der Klagegesang wirkt nur insofern lindernd, als er das Herz noch mehr zerreißt. Ein solcher Kummer verlangt nicht nach Trost; er nährt sich von dem Gefühl seiner Untröstbarkeit. Der Klagegesang entspringt dem Bedürfnis, die Wunde immer von neuem zu reizen.

      »Du gehörst gewiß zum Kleinbürgerstand?« fuhr der Starez fort und sah die Frau teilnahmsvoll an.

      »Wir sind aus der Stadt, Vater, aus der Stadt; wir stammen vom Land, aber wir sind jetzt Städter, wohnen in der Stadt. Um dich zu sehen, bin ich gekommen, Vater. Wir haben von dir gehört, Vater, wir haben von dir gehört. Mein kleines Söhnchen habe ich begraben, und da bin ich gegangen, zu Gott zu beten. In drei Klöstern bin ich gewesen, und nun haben mir die Leute geraten: Geh auch noch dorthin, Nastasjuschka! Das heißt, zu Ihnen, Täubchen, zu Ihnen. Da bin ich also hergekommen. Gestern war ich im Nachtgottesdienst, und heute bin ich zu Ihnen gekommen.«

      »Worüber weinst du denn?«

      »Um mein Söhnchen gräme ich mich, Väterchen. Beinahe drei Jahre war es alt, es fehlten nur drei Monate. Um mein Söhnchen quäle ich mich, Vater, um mein Söhnchen. Er war der letzte Sohn, der mir geblieben war. Vier hatten wir, Nikituschka und ich. Aber die Kinderchen bleiben nicht bei uns. Teuerster, sie bleiben nicht. Die drei ersten habe ich begraben und mich nicht allzusehr gegrämt, den letzten aber kann ich nicht vergessen. Er steht immer vor mir und weicht nicht. Er hat mir die Seele ausgesogen. Ich sehe seine Wäsche an, seine Hemdchen oder seine Stiefelchen und heule. Ich lege alles vor mich hin, was von ihm übriggeblieben ist; jedes Stück, das ihm gehört hat, sehe ich an und heule. Ich habe zu Nikituschka, meinem Mann, gesagt: ›Laß mich fort, lieber Mann, laß mich wallfahrten gehen!‹ Er ist Droschkenkutscher, wir sind nicht arm, wir betreiben das Fuhrgeschäft selbständig, alles gehört uns, die Pferde und der Wagen. Aber was haben wir jetzt von unserem Hab und Gut? Er hat in meiner Abwesenheit sicher angefangen zu trinken, mein Nikituschka, ganz sicher, das war auch früher schon so, kaum wandte ich den Rücken, wurde er schwach. Aber jetzt denke ich gar nicht an ihn. Jetzt bin ich schon drei Monate von Hause fort. Ich habe alles vergessen, alles vergessen und mag mich nicht erinnern; was sollte ich jetzt auch bei ihm? Ich habe mit ihm abgeschlossen, ganz und gar abgeschlossen, mit allen Menschen habe ich abgeschlossen. Und ich möchte jetzt mein Haus und mein Hab und Gut nicht sehen, am liebsten möchte ich jetzt überhaupt nichts sehen!«

      »Hör zu, Mutter!« sagte der Starez. »In alten Zeiten sah einmal ein großer Heiliger im Gotteshaus so eine Mutter wie dich, die weinte auch um ihr einziges Kind, das Gott zu sich gerufen hatte. ›Weißt du denn nicht‹, sagte der Heilige ›wie keck diese Kindlein vor Gottes Thron sind? Niemand ist kecker als sie im Himmelreich. Du hast uns das Leben geschenkt, Herr, sagen sie zu Gott, aber kaum hatten wir es erschaut, hast du es uns schon wieder genommen! Und dann bitten und flehen sie so keck, daß ihnen der Herr ohne Verzug den Rang von Engeln verleiht. Und darum‹, sagte der Heilige, ›freue auch du dich, Weib, und weine nicht; denn auch dein Kindlein ist jetzt beim Herrn in der Schar der Engel.‹ So sprach in alten Zeiten der Heilige zu der weinenden Frau. Er war ein großer Heiliger und konnte unmöglich die Unwahrheit sagen. Daher wisse auch du, Mutter, daß dein Kindlein jetzt froh und heiter vor Gottes Thron steht und für dich betet. Und darum weine nicht, sondern freue dich!«

      Das Weib hörte ihn an mit gesenktem Kopf, die eine Wange in die Hand gestützt. Sie seufzte tief:

      »Genauso hat mich Nikituschka getröstet; Wort für Wort wie du hat er gesagt: ›Du Unvernünftige, was weinst du? Unser Söhnchen singt jetzt bei Gott dem Herrn zusammen mit den Engeln.‹ Das sagte er zu mir, aber er selbst weint, das sehe ich, er weint genauso wie ich. ›Das weiß ich‹, sage ich, ›Nikituschka. Wo sollte er denn auch anders sein als bei Gott dem Herrn? Nur hier, hier bei uns ist er jetzt nicht, Nikituschka, hier neben uns, wo er früher saß!‹ Ach, wenn ich ihn doch nur ein einziges Mal, nur einen einzigen Augenblick wieder sehen könnte! Ich würde nicht zu ihm hingehen, würde kein Wort sagen, in einer Ecke würde ich mich verstecken. Nur ein einziges Augenblickchen möchte ich ihn sehen und hören, wie er auf dem Hof

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