Der Jüngling. Fjodor Dostojewski
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»Die Hauptsache ist jetzt ein Schriftstück«, schloß Krafft, »vor dem Frau Achmakowa große Furcht hat.«
Auch hierüber machte er mir Mitteilungen; hier sind sie:
Als Katerina Nikolajewnas Vater, der alte Fürst, sich im Ausland bereits von seinem Anfall zu erholen begann, beging sie die Unvorsichtigkeit, an Andronikow unter dem Siegel des Geheimnisses (Katerina Nikolajewna schenkte ihm volles Vertrauen) einen sehr kompromittierenden Brief zu schreiben. Es zeigte sich damals bei dem in der Rekonvaleszenz begriffenen Fürsten tatsächlich ein Hang, das Geld zu vergeuden und beinahe aus dem Fenster zu werfen: er fing an, im Ausland ganz unnütze, teure Sachen wie Gemälde und Vasen zu kaufen, größere Summen zu Gott weiß was für Zwecken zu verschenken und zu spenden, sogar zur Förderung von allerlei dortigen Instituten; einem vornehmen russischen Verschwender hätte er beinahe für ein gewaltiges Stück Geld hinter dem Rücken seiner Angehörigen ein heruntergekommenes, mit Prozessen behaftetes Gut abgekauft; und schließlich schien es, daß er faktisch an eine neue Ehe denke. Und da hatte nun in Anbetracht alles dessen Katerina Nikolajewna, die während der Krankheit ihres Vaters nicht von seiner Seite wich, an Andronikow als Juristen und »alten Freund« einen Brief geschrieben und darin gefragt, ob es gesetzlich möglich sei, den Fürsten unter Vormundschaft zu stellen oder ihm die Rechtsfähigkeit zu entziehen und wie sich das eventuell am besten machen lasse, so daß kein häßliches Aufsehen entstehe, niemand ihr einen Vorwurf machen könne und die Empfindungen des Vaters dabei geschont würden und so weiter und so weiter. Andronikow soll ihr gleich damals unter Anführung vernünftiger Gründe entschieden abgeraten haben: später aber, nachdem der Fürst vollständig wiederhergestellt war, war es unmöglich, auf diese Idee noch einmal zurückzukommen; aber der Brief war in Andronikows Händen geblieben. Und nun starb dieser; Katerina Nikolajewna erinnerte sich sogleich an den Brief; sie sagte sich, wenn er unter den Papieren des Verstorbenen zum Vorschein käme und in die Hände des alten Fürsten gelangte, so würde dieser sie unzweifelhaft für immer aus dem Hause jagen, sie enterben und ihr auch bei seinen Lebzeiten keine Kopeke mehr geben. Der Gedanke, daß die eigene Tochter an seinem Verstand gezweifelt und sogar beabsichtigt hatte, ihn für irrsinnig erklären zu lassen, hätte dieses Lamm in ein wildes Tier verwandelt. Sie aber war als Witwe dank der Spielsucht ihres Mannes völlig mittellos zurückgeblieben und konnte einzig und allein auf ihren Vater rechnen: sie hoffte fest, von ihm eine neue Mitgift, ebenso groß wie die erste, zu erhalten.
Krafft wußte über das Schicksal dieses Briefes nur sehr wenig, bemerkte aber, Andronikow habe »wichtige Papiere niemals vernichtet« und habe außerdem zwar einen weiten Blick, aber auch ein »weites Gewissen« gehabt. (Ich war ordentlich erstaunt darüber, daß Krafft bei aller Liebe und Hochachtung, die er gegen Andronikow empfunden hatte, doch so objektiv urteilte.) Aber Krafft war doch davon überzeugt, daß das kompromittierende Schriftstück infolge der nahen Beziehungen, in denen Wersilow zu der Witwe und den Töchtern Andronikows stand, in dessen Hände gekommen sei; es war bereits bekannt, daß diese weiblichen Personen alle von dem Verstorbenen hinterlassenen Papiere sogleich bereitwilligst Wersilow zur Verfügung gestellt hatten. Krafft wußte ferner, daß auch Katerina Nikolajewna bereits vermutete, der Brief sei in Wersilows Händen, daß sie ebendeswegen in Angst war, da sie glaubte, Wersilow werde mit dem Briefe sogleich zum alten Fürsten gehen; daß sie nach ihrer Rückkehr aus dem Ausland bereits in Petersburg Nachforschungen nach dem Briefe angestellt hatte, bei Andronikows gewesen war und jetzt ihre Nachforschungen fortsetzte, da sie immer noch eine Spur von Hoffnung hatte, daß der Brief vielleicht doch nicht in Wersilows Besitz sei, und endlich, daß sie einzig und allein in dieser Absicht nach Moskau gereist war und dort Marja Iwanowna dringend gebeten hatte, in den Papieren, die sie bei sich aufbewahrte, nachzusuchen. Von Marja Iwanownas Existenz und ihren Beziehungen zu dem verstorbenen Andronikow hatte sie erst ganz vor kurzem erfahren, erst nachdem sie nach Petersburg zurückgekehrt war.
»Sie glauben, daß sie den Brief bei Marja Iwanowna nicht gefunden hat?« fragte ich und hatte dabei meine eigenen Gedanken.
»Wenn Marja Iwanowna nicht einmal Ihnen etwas darüber mitgeteilt hat, dann hat sie ihn vielleicht auch gar nicht.«
»Also nehmen Sie an, daß das Schriftstück sich in Wersilows Händen befindet?«
»Das ist allerdings das wahrscheinlichste. Indes, ich weiß es nicht, möglich ist alles«, sagte er. Es war ihm anzusehen, daß er sehr ermüdet war.
Ich richtete weiter keine Fragen an ihn, wozu auch? Die Hauptsache war mir jetzt klargeworden; trotz dieses ganzen schmählichen Wirrwarrs hatte alles, was ich befürchtete, seine Bestätigung gefunden.
»Das alles ist wie ein Traum, wie Fieberphantasien«, sagte ich tieftraurig und griff nach meinem Hut.
»Dieser Mensch ist Ihnen wohl sehr teuer?« fragte Krafft mit sichtlicher, großer Teilnahme, die ich in diesem Augenblick auf seinem Gesicht las.
»Ich hatte es mir schon vorher gedacht«, sagte ich, »daß ich auch von Ihnen nicht alles erfahren würde. Die einzige Hoffnung, die mir noch bleibt, ist Frau Achmakowa. Auf die hatte ich schon von vornherein gerechnet. Vielleicht gehe ich zu ihr, vielleicht auch nicht.«
Krafft sah mich einigermaßen erstaunt an.
»Leben Sie wohl, Krafft! Warum drängen Sie sich Leuten auf, die von Ihnen nichts wissen wollen? Ist es nicht das beste, den ganzen Verkehr abzubrechen, wie?«
»Und wo soll man dann hin?« fragte er, finster zur Erde blickend.
»Zu sich, zu sich! Den ganzen Verkehr abbrechen und zu sich gehen!«
»Nach Amerika?«
»Nach Amerika! Zu sich, nur zu sich! Darin besteht meine ganze Idee, Krafft!« sagte ich begeistert.
Er sah mich neugierig an.
»Haben Sie denn einen solchen Ort: ›zu sich‹?«
»Jawohl. Auf Wiedersehen, Krafft; ich danke Ihnen und bedaure, Ihnen soviel Mühe gemacht zu haben! Ich würde an Ihrer Stelle, wenn ich selbst ein solches Rußland im Kopfe hätte, alle diese Menschen zum Teufel jagen: macht, daß ihr wegkommt; intrigiert und beißt euch untereinander – was geht's mich an!«
»Bleiben Sie noch ein Weilchen!« sagte er auf einmal, als er mich schon bis zur Eingangstür begleitet hatte.
Ich wunderte mich ein bißchen, kehrte um und setzte mich wieder hin. Krafft setzte sich mir gegenüber. Wir lächelten uns gegenseitig an. Ich sehe das alles vor mir, als geschähe es jetzt. Ich erinnere mich deutlich, daß sich in mir ein Gefühl der Bewunderung für ihn regte.
»Es gefällt mir an Ihnen, daß Sie ein so höflicher Mensch sind«, sagte ich plötzlich.
»Ja?«
»Ich glaube, es gefällt mir darum, weil ich selbst es so selten verstehe, höflich zu sein, obwohl ich wünschen möchte, es zu verstehen ... Nun, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn die Menschen einen beleidigen: wenigstens befreien sie einen so von dem Unglück, sie lieben zu müssen.«
»Welche Stunde des Tages lieben Sie am meisten?« fragte er. Er hatte offenbar gar nicht gehört, was ich gesagt hatte. »Welche Stunde? Das weiß ich nicht. Den Sonnenuntergang habe ich nicht gern.«
»Nein?« erwiderte er, anscheinend besonders interessiert, versank aber sogleich wieder in seine Gedanken.