Der Jüngling. Fjodor Dostojewski

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Der Jüngling - Fjodor Dostojewski

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Ton und für die feinste Verkehrsform gehalten zu werden. »Unserer liebwerten und verehrten Gattin Sofja Andrejewna sende ich unsere ergebenste Empfehlung«... »Unseren liebenswürdigen Kindern sende ich unsern ewig unzerstörbaren väterlichen Segen.« Die Kinder wurden sämtlich mit Namen aufgezählt, in der Reihenfolge, wie sie hinzugekommen waren; auch ich war dabei. Ich füge noch die Bemerkung hinzu, daß Makar Iwanowitsch denn doch so klug war, »Seine Hochgeboren den hochverehrten Herrn Andrej Petrowitsch« niemals seinen »Wohltäter« zu nennen, obwohl er sich ihm unfehlbar in jedem Brief ganz ergebenst empfahl, ihn um seine Huld bat und ihm den Segen Gottes wünschte. Die Antwortschreiben an Makar Iwanowitsch wurden jedesmal alsbald von meiner Mutter abgesandt und waren immer in genau derselben Art abgefaßt. Wersilow beteiligte sich an diesem Briefwechsel selbstverständlich nicht. Makar Iwanowitsch schrieb von den verschiedensten Enden Rußlands her, aus Städten und Klöstern, in denen er manchmal lange Aufenthalt nahm. Er war ein sogenannter ewiger Pilger geworden. Niemals bat er um etwas; dafür erschien er mit Sicherheit alle drei Jahre einmal zu Hause zum Besuch und kehrte dann geradeswegs bei meiner Mutter ein, die – es traf sich immer so – eine eigene Wohnung hatte, getrennt von der Wohnung Wersilows. Davon werde ich später noch zu sprechen haben; hier bemerke ich nur noch, daß Makar Iwanowitsch sich nicht etwa im Salon auf den Sofas herumrekelte, sondern sich bescheiden irgendwo in einem Kämmerchen einquartierte. Er blieb nicht lange, nur etwa fünf Tage oder eine Woche.

      Ich habe vergessen zu sagen, daß er seinen Familiennamen Dolgorukij außerordentlich liebte und auf ihn den größten Wert legte. Selbstverständlich war das eine lächerliche Dummheit. Das dümmste dabei war, daß ihm sein Familienname gerade deswegen gefiel, weil es Fürsten Dolgorukij gibt. Eine sonderbare, ganz verdrehte Auffassung!

      Wenn ich gesagt habe, die ganze Familie sei immer zusammen gewesen, so habe ich mich selbstverständlich ausgenommen. Ich war gewissermaßen ein Ausgestoßener und war schon fast unmittelbar nach meiner Geburt bei fremden Leuten untergebracht werden. Aber das war nicht in irgendeiner besonderen Absicht geschehen, sondern hatte sich einfach von selbst so ergeben. Meine Mutter war, als sie mich zur Welt gebracht hatte, noch jung und schön, und daher brauchte er sie notwendig, und ein kleiner Schreihals wäre in dieser Hinsicht hinderlich gewesen, namentlich auf Reisen. So kam es denn, daß ich bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr meine Mutter fast gar nicht zu sehen bekommen habe, nur zwei- oder dreimal flüchtig. Schuld daran war nicht etwa Mangel an Gefühl bei meiner Mutter, sondern Wersilows Hochmut anderen Menschen gegenüber.

      Jetzt von etwas ganz anderem.

      Einen Monat vorher, das heißt einen Monat vor dem 19. September, faßte ich in Moskau den Entschluß, mich von all den Meinigen loszusagen und vollständig in meiner Idee aufzugehen. Ich schreibe absichtlich hin: »in meiner Idee aufzugehen«, weil dieser Ausdruck meinen Hauptgedanken, das Ziel, für das ich auf der Welt bin, ziemlich vollständig bezeichnet. Was das für eine Idee ist, davon wird später noch sehr viel zu sprechen sein. In der Einsamkeit meines langjährigen, träumerischen Moskauer Lebens hatte sich diese Idee schon in der sechsten Gymnasialklasse in meinem Kopf gebildet und mich seitdem wohl keinen Augenblick verlassen. Sie verschlang mein ganzes Leben. Ich hatte auch vorher mich oft Träumereien hingegeben und gleich von meiner Kindheit an in jenem bewußten Traumland gelebt; aber als diese wichtigste, alles verschlingende Idee in meinem Kopf aufgetaucht war, hatten meine Träumereien an Kraft gewonnen, eine bestimmte Form angenommen und sich aus törichten zu verständigen entwickelt. Das Gymnasium war den Träumereien nicht hinderlich gewesen; es war ebensowenig der Idee hinderlich. Ich füge jedoch hinzu, daß ich im letzten Schuljahr nur ein schlechter Schüler war, während ich bis zur siebenten Klasse immer zu den ersten gehört hatte; es war dies die Folge eben jener Idee, die Folge eines vielleicht unrichtigen Schlusses, den ich aus ihr gezogen hatte. Auf diese Weise war nicht das Gymnasium der Idee hinderlich, sondern die Idee dem Gymnasium. Sie erwies sich auch für das Universitätsstudium hinderlich. Als ich das Gymnasium absolviert hatte, nahm ich mir sogleich vor, nicht nur mit allen meinen Angehörigen vollständig zu brechen, sondern nötigenfalls auch mit der ganzen Welt, obwohl ich damals erst zwanzig Jahre alt war. So schrieb ich denn durch die angemessene Mittelsperson an die angemessene Stelle in Petersburg, man möge mich künftighin völlig in Ruhe lassen, mir kein Geld mehr zu meinem Unterhalt schicken und mich möglichst ganz vergessen (das heißt, selbstverständlich falls man sich meiner überhaupt noch erinnere), und zum Schluß teilte ich mit, daß ich »um keinen Preis« die Universität beziehen würde. Ich stand vor folgendem unausweichlichem Dilemma: entweder mußte ich mir den Besuch der Universität und den weiteren Ausbau meiner Bildung versagen, oder ich mußte die sonst sofort mögliche Umsetzung der »Idee« in die Tat noch um vier Jahre hinausschieben. Ich entschied mich, ohne zu schwanken, für die Idee, von deren Richtigkeit ich wie von der eines mathematischen Lehrsatzes überzeugt war. Wersilow, mein Vater, den ich erst ein einziges Mal in meinem Leben als zehnjähriger Knabe gesehen hatte (und der in diesem einen Augenblick einen starken Eindruck auf mich gemacht hatte), Wersilow forderte mich in Beantwortung meines Briefes, der übrigens nicht an ihn gerichtet gewesen war, selbst in einem eigenhändigen Schreiben auf, nach Petersburg zu kommen, und stellte mir eine private Anstellung in Aussicht. Diese Aufforderung von seiten eines trockenen, stolzen, mir gegenüber hochmütigen und nachlässigen Mannes, der mich in die Welt gesetzt, mich zu fremden Leuten gegeben, mich gar nicht kennengelernt und dies niemals auch nur bereut hatte (wer weiß, vielleicht hatte er von meinem Dasein überhaupt nur eine unklare, dunkle Vorstellung, da sich später herausstellte, daß auch das Geld für meinen Unterhalt in Moskau nicht von ihm, sondern von anderen gezahlt worden war), die Aufforderung von Seiten dieses Mannes, sage ich, der sich so plötzlich meiner erinnerte und mich eines eigenhändigen Schreibens würdigte, diese mir schmeichelhafte Aufforderung entschied mein Schicksal. In seinem Briefchen (es war nur eine knappe Seite kleinen Formats) gefiel mir seltsamerweise unter anderem besonders, daß er des Universitätsstudiums mit keinem Wort Erwähnung tat, mich nicht bat, meinen Entschluß zu ändern, mir keine Vorwürfe machte, weil ich nicht studieren wollte, kurz, keine väterlichen Redensarten von der üblichen Art machte, und dabei war gerade dies von seiner Seite insofern häßlich, als es seine Gleichgültigkeit mir gegenüber noch stärker zutage treten ließ. Ich entschloß mich, hinzufahren, auch deshalb, weil dies meinem Hauptplan nicht hinderlich war. ›Ich will sehen, was daraus wird‹, dachte ich, ›jedenfalls binde ich mich an sie nur für eine gewisse Zeit, vielleicht nur für ganz kurze Zeit. Sowie ich aber sehen sollte, daß dieser wenn auch nur konventionelle und unbedeutende Schritt mich doch von meinem Hauptplan entfernt, werde ich sogleich mit ihnen brechen, alles im Stich lassen und mich in mein Gehäuse zurückziehen.‹ Geradeso sagte ich zu mir: in mein Gehäuse! ›Ich werde mich wie eine Schildkröte in meinem Gehäuse verbergen‹, dieser Vergleich gefiel mir sehr. ›Ich werde nicht mehr allein sein‹, fuhr ich in meinen Überlegungen fort, während ich diese ganzen letzten Tage in Moskau wie betäubt umherging, ›ich werde jetzt nie mehr allein sein wie bisher so viele schreckliche Jahre hindurch: ich werde jetzt meine Idee haben, der ich niemals werde untreu werden, nicht einmal, wenn ich an allen Menschen dort Gefallen fände und sie mich glücklich machten und ich mit ihnen sogar zehn Jahre zusammen lebte!‹ Aber, wie ich im voraus bemerke, gerade diese Empfindung, gerade diese Zwiespältigkeit meiner schon in Moskau festgelegten Pläne und Ziele, eine Zwiespältigkeit, deren ich mir in Petersburg jederzeit bewußt blieb (denn ich weiß nicht, ob es in Petersburg einen Tag gegeben hat, den ich mir nicht als den endgültigen Termin angesetzt hätte, um mit ihnen zu brechen und davonzugehen), diese Zwiespältigkeit, sage ich, war wohl eine der Hauptursachen der vielen Unvorsichtigkeiten, Schändlichkeiten, ja Gemeinheiten und natürlich auch Dummheiten, die ich in diesem Jahr begangen habe.

      Natürlich, ich bekam auf einmal einen Vater, den ich vorher noch nie gehabt hatte. Dieser Gedanke berauschte mich geradezu, sowohl während der Reisevorbereitungen in Moskau, als auch während ich dann im Zug saß. Daß er mein Vater war, schien mir dabei noch nicht das wichtigste, und von Zärtlichkeiten war ich kein Freund, aber wie war es möglich gewesen, daß dieser Mensch mich nicht hatte kennen wollen und mich gedemütigt hatte, während ich diese ganzen Jahre über mich gleichsam in Träumen an ihn angesaugt hatte (wenn man sich bei Träumen so ausdrücken kann)? In allen meinen Träumereien, von meiner Kindheit an, hatte ich mich mit ihm beschäftigt, meine Gedanken hatten

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