Charles Finch: Gedächtnisverlust. Thomas Riedel

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Charles Finch: Gedächtnisverlust - Thomas Riedel

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rechthaberisch. Er liebte es, die Zügel straff in der Hand zu halten und dürfte vermutlich selbst nicht daran geglaubt haben, damit bei allen Einwohnern gut anzukommen.«

      Schweigend fuhren sie weiter, bis Pontypool schließlich nach rechts zeigte. »Dort ist der Sitz des Abgeordneten … dort auf dem Hügel. Sehen Sie die große Villa?«

      Finch runzelte die Stirn. »Alles was ich im Augenblick sehe ist eine hohe steinerne Mauer. Ich frage mich, warum jemand eine solche massive Umfassung um sein Haus errichtet.«

      Der Kronanwalt nickte. »Ich muss zugeben, dass auch mich diese Umfassung sehr an eine Festungsmauer erinnert«, bemerkte Pontypool und fügte hinzu »Sie umschließt übrigens nicht nur seine Villa. Auf dem Arreal befinden sich auch die Wohngebäude von seiner Tochter Lorraine Nicholson und seinem Sohn Joseph.«

      »Ich kann mir vorstellen, dass es dort jedem schwer fällt zu atmen«, murmelte Finch nachdenklich.

      Pontypool lenkte den Einspänner durch das große, eiserne Tor und über die dahinterliegende kurvenreiche Auffahrt zum Haus des Ermordeten hinauf.

      ***

       4

      Die Familie des Toten hatte sich in der Bibliothek versammelt. Von hier aus war die geschlossene Tür zum Arbeitszimmer zu sehen, hinter der Dustin Steel in Begleitung eines Kriminalbeamten in Zivil wartete.

      Der Mord hatte ihre Verbindungen neu zusammengewürfelt. Sie fühlten sich unwohl. Plötzlich war da ein Gefühl sich fremd zu sein. Die innige Verbindung, die sie ein Leben lang verbunden hatte, war durch den unvermittelten Tod des Familienoberhauptes gelöst worden. Eine offene Feindseligkeit, die über all die Jahre nie zum Vorschein gekommen war, brach sich ihren Weg.

      Die einzige, die wie unter Zwang redete, war Lorraine Nicholson. Als Kind war sie eine jener rosa-weißen Porzellanpuppen-Blondinen. Die zerbrechliche, fast durchscheinende Schönheit hatte sie sich immer noch bewahrt, auch wenn ihre dreißig Lebensjahre bereits anhand einiger Spuren in ihrem Gesicht zu erkennen waren. Es schien fast so, als habe ihr Mund gegen ihren Willen einen dünnen, aber harten Ausdruck angenommen. Ihr bestimmter Blick verschwand, als sie lächelte, doch wirkte ihr Lächeln gekünstelt. Es war Bestandteil ihres sorgfältig eingesetzten Charmes. »Es scheint mir, werte Bridget, das Mindeste, was du hättest tun können, wäre, zu diesem Zeitpunkt etwas weniger Auffälliges zu tragen«, warf sie ihrer Schwester vor.

      Bridget wandte sich von dem bis zum Boden gehenden Fenster mit dem Balkongitter am Ende des Raumes ab. Sie hatte zuvor über den englischen Rasen hinweg hinüber auf das kleine, weiße Häuschen am Waldrand gestarrt. Es war das Spielhaus, in dem sie und Lorraine vor Jahren so viel Spaß hatten und ihre Zeit verbrachten – das Häuschen, in dem Dustin Steel die letzten drei Monate gelebt hatte und in dem die Kette der Ereignisse begonnen hatte, die bis zum Mord in der vergangenen Nacht führte. Sie trug ein weißes Kleid mit hellem scharlachrotem Besatz am Hals und an den kurzen Ärmeln. In ihrem dunklen Haar steckte eine rote Blume, und zwischen ihren Fingern drehte sie ein gleichfarbiges Taschentuch. Wortlos sah sie ihre Schwester an und drehte sich dann wieder dem offenen Fenster zu.

      »Vielleicht steht es Bridget nur nicht so gut wie dir, meine Süße«, bemerkte Joseph Whiteman, der sich auf einem mit Chintz bezogenen Sessel ausgestreckt hatte. Offensichtlich war sein nächtliches Trinkgelage noch nicht beendet, denn ein halbgefülltes Highball-Glas stand auf dem Tisch neben ihm. Seine Bemerkung kam nicht gut an.

      »Wirklich, Joseph, es ist wohl nicht die richtige Zeit für deinen Humor«, ermahnte ihn Lorraine. »Mir persönlich ist es völlig egal, was Bridget trägt. Aber wir sollten an andere denken. Im Ort wird es heute nur so wimmeln … die Polizei, Vaters Freund, der Kronanwalt Pontypool … Es ist eine Frage des Anstandes.«

      »Um den Anstand mache ich mir keine Sorgen«, meinte Joseph. Er hob sein Glas an und starrte in die Flüssigkeit, als ob er dort etwas Besonderes sehen würde. »Ich mache mir eher Sorge um ein Alibi.«

      »Aber das ist doch Unsinn!«, erwiderte Lorraine.

      »Ist es das wirklich?« Joseph lachte und stellte sein Glas ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. »Ich war zu betrunken, als Warren zum Haus kam, um mir die Neuigkeit zu erzählen. So wie sonst auch … Und ich kann auch nicht sagen, wann genau er von uns gegangen ist.«

      »Ich sage dir, es ist lächerlich, Joseph«, beharrte Lorraine. »Niemand hat einen Grund, dich zu verdächtigen.«

      »Nein? Nun, ich verdächtige mich selbst, meine Süße. Daran erkennst du, wie oft ich davon geträumt habe, es zu tun!«

      »Joseph! Hör sofort auf damit!«

      Warren Nicholson, der allein auf der Couch saß, unterbrach das Polieren seiner Brillengläser und blickte auf. Er war ein Mann von kurzer, runder Statur in den Vierzigern. Nicholson sah ziemlich niedergeschlagen aus. »Weißt du, sie hat recht«, brachte er sich ein, »so redet man nicht, … und schon gar nicht vor Alexandra.«

      Wenn die Frau des verstorbenen Abgeordneten etwas von diesem Worten vernommen hatte, so verstand sie es gut, sich nichts davon anmerken zu lassen. Sie saß schweigend in einer Ecke des Raumes und hatte sich über einen kleinen Schreibtisch gebeugt. Auf einem Bogen Papier machte sie sich einige Notizen – schließlich gab es einige Telegramme, die nun verschickt werden mussten. Alexandra Whiteman war vor ihrer Heirat, die nun bereits fünf Jahre zurücklag, die persönliche Sekretärin ihres Mannes gewesen. Daher wusste sie alles, was im Zusammenhang mit seinem öffentlichen Leben getan werden musste. Für sie war es eine Flucht, all die Listen von Personen und Organisationen zu erstellen, die jetzt benachrichtigt werden mussten – und zugleich auch eine Flucht vor dem Rest ihrer Familie, die nie aufgehört hatte, sie als unerwünscht – als Außenseiterin – zu behandeln.

      Lorraine, Warren und Joseph sahen sie einen Moment lang an. Abgesehen vom Kratzen des Federhalters herrschte Stille im Raum, die erst durch ein Lachen von Joseph unterbrochen wurde.

      »Jedenfalls müssen wir jetzt nicht mehr alle vor Alexandra kriechen, wenn wir Geld brauchen«, meinte er mit leiser Stimme. »Wir werden nun alle unseren Anteil an den unrechtmäßig erworbenen Gewinnen des alten Mannes bekommen.« Er lachte wieder. »So wie ich das sehe, schulden wir dem Mörder einen aufrichtigen Dank!«

      »Um Himmels willen, Joseph!«, fuhr Lorraine entsetzt auf. »Du müsstest dich einmal selbst reden hören!«

      Bridget wandte sich von der Terrassentür ab. »Pontypool kommt«, sagte sie, ehe Joseph etwas auf Lorraines Ermahnung erwidern konnte.

      Warren korrigierte den Sitz seiner Brille. »Ich hoffe, er wird mich nicht allzu lange aufhalten«, brummte er. »Ich sollte längst in meinem Büro sein. Immerhin habe ich einen Leitartikel zu schreiben: den Nachruf auf Cameron Whiteman, und …«

      »Was wirst du über meinen Vater schreiben, Warren?«, wollte Joseph wissen. »Wirst du den Lesern verraten, wie er euch mit seiner Güte verprügelt hat?«

      »Joseph!«, mahnte Lorraine erneut.

      »Hör zu, Joseph …«, begann Warren. Er hielt inne, als er das Geräusch der Haustür hörte, die sich mit einem leichten Knarren öffnete, nur um sich gleich darauf mit einem dumpfen Knall zu schließen. Schritte in der Eingangshalle folgten.

      Joseph Whiteman griff nach seinem Glas, leerte es in einem Zug und stellte es zurück. »Hier muss jemand eine höllische Angst haben«, bemerkte er lächelnd. Dabei hielt er seine Nase wie schnüffelnd in die Höhe. »Ich kann den Angstschweiß

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