Die Ratten. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Gerhart Hauptmann
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Hat durchaus keine Eile, Herr Direktor.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Ja, das sagen Sie so: aber ich bin ein gehetztes Wild, guter Spitta …
SPITTA.
Und doch möchte ich, da ich dieses Zusammentreffen wirklich als eine Art höherer Fügung ansehen muss, um eine Minute Ihrer kostbaren Zeit bitten. Dürfte ich, kurz, eine Frage tun?
[32]DIREKTOR HASSENREUTER
(mit den Augen auf der Uhr, die er gezogen hat). Genau eine Minute. Die Uhr in der Hand, bester Spitta.
SPITTA.
Frage und Antwort wird, denk ich, kaum von so langer Dauer sein.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Also los!
SPITTA.
Habe ich wohl Talent zum Schauspieler?
DIREKTOR HASSENREUTER.
Um Gottes willen, Mensch, sind Sie denn irrsinnig? – Verzeihen Sie, bester Herr Kandidat, wenn ich in einem solchen Fall bis zur Unhöflichkeit außer dem Häuschen bin. Es heißt zwar: natura non facit saltus, aber Sie haben da einen unnatürlichen Sprung gemacht. Da muss ich mal erst zu Atem kommen. Und nun Schluss davon! Denn glauben Sie mir, wenn wir beide jetzt über diese Frage zu diskutieren anfangen, so würden wir in drei bis vier Wochen, sagen wir Jahren, darüber noch nicht zum Schluss gekommen sein. – Sie sind doch Theologe, mein Bester, und stammen aus einem Pastorhaus: wie kommen Sie denn auf solche Gedanken? wo Sie doch Konnexionen haben und Ihnen die Wege zu einer behaglichen Existenz geebnet sind.
SPITTA.
Ja, das ist eine lange innere Geschichte, eine lange Geschichte schwerer innerer Kämpfe, Herr Direktor, die allerdings bis zu dieser Stunde nur mir bekannt und also absolutes Geheimnis gewesen sind. Da hat mich das Glück in Ihr Haus geführt, und von diesem Augenblick an fühlte ich, wie ich dem wahren Ziel meines Lebens näher und näher kam.
DIREKTOR HASSENREUTER
(mit peinlicher Ungeduld). Das ehrt mich. Das ehrt mich und meine Familie! (Er legt [33]ihm die Hände auf die Schulter.) Dennoch muss ich Ihnen jetzt die ganz inständige Bitte vortragen, von der Erörterung dieser Angelegenheit im Augenblicke abzusehen. Meine Geschäfte sind unaufschieblich.
SPITTA.
Dann möchte ich nur noch so viel hinzusetzen – damit Sie’s wissen! –, dass ich absolut fest entschlossen bin.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Aber mein lieber Herr Kandidat: wer hat Ihnen denn diese Raupen in den Kopf gesetzt? Ich habe mich über Sie gefreut. Habe Sie schon im Geist Ihres friedlichen Pfarrhauses wegen beneidet. Gewissen literarischen Ambitionen, die einem hier in der Großstadt anfliegen, habe ich keinen Wert beigelegt. Das ist nur so nebenbei und verliert sich zweifellos wieder bei ihm, dachte ich mir! – Mensch, und nun wollen Sie Komödiant werden? Kurz: Gnade Gott, wenn ich Ihr Vater wär! Ich würde Sie bei Wasser und Brot einsperren und Sie nicht eher herauslassen, als bis Ihnen jede Erinnerung an diese Torheit entschwunden wäre. Dixi! und nun adieu, guter Spitta.
SPITTA.
Einsperren oder irgendeine andere Gewaltmaßregel würde bei mir durchaus nichts helfen, fürcht ich.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Aber Mensch: Sie wollen Schauspieler werden? Mit Ihrer schiefen Haltung, mit Ihrer Brille und vor allem mit Ihrem heiseren und scharfen Organ geht das doch nicht.
SPITTA.
Wenn es im Leben solche Käuze gibt wie mich, warum soll es nicht auch auf der Bühne solche Käuze geben? Und ich bin der Ansicht, ein wohlklingendes Organ, womöglich verbunden mit der schillerischgoethisch-weimarischen Schule der Unnatur, ist eher [34]schädlich als förderlich. Die Frage ist nur: würden Sie mich, wie ich nun einmal bin, als Schüler annehmen?
DIREKTOR HASSENREUTER
(zieht hastig seinen Sommerpaletot über). Nein! denn erstens ist meine Schule auch nur eine Schule schillerisch-goethisch-weimarischer Unnatur! Zweitens könnte ich es vor Ihrem Herrn Vater nicht verantworten! Und drittens zanken wir uns so schon genug, jedes Mal nach den Privatstunden, die Sie in meinem Hause geben, beim Abendbrot. Das würde dann bis zur Prügelei ausarten. Und nun, Spitta: ich muss auf die Pferdebahn.
SPITTA.
Mein Vater ist bereits informiert. Ich habe ihm in einem zwölf Seiten langen Brief Punkt für Punkt die Geschichte meiner inneren Wandlung eröffnet …
DIREKTOR HASSENREUTER.
Sicherlich wird der alte Herr äußerst davon geschmeichelt sein! Mensch, und nun kommen Sie mit mir, ich werde sonst wahnsinnig.
(Der Direktor zieht Spitta gewaltsam mit sich fort und hinaus. Man hört die Tür ins Schloss fallen. Es wird still bis auf das ununterbrochene Rauschen Berlins, das nun lauter hervortritt. Nun wird die Bodenklappe geöffnet, und Walburga Hassenreuter steigt in wahnsinniger Hast, gefolgt von Frau John, die Treppe herunter.)
FRAU JOHN
(flüsternd, heftig). Wat is denn? Et is doch jar nischt jeschehn.
WALBURGA.
Frau John, ich schreie! Ich muss gleich losschreien! – Um Gottes willen, ich kann gar nicht an mich halten, Frau John.
FRAU JOHN.
Taschentuch mang die Zähne, Mächen! – Et is ja jar nischt! Wat haste dir denn?
WALBURGA
(zähneklappernd, ihr Röcheln gewaltsam be [35]zwingend). Ich bin ja des Todes … ich bin ja des Todes erschrocken, Frau John!
FRAU JOHN.
Wenn ick man wisste, for wat du erschrocken bist?
WALBURGA.
Haben Sie nicht diesen schrecklichen Menschen gesehn?
FRAU JOHN.
Wat is denn da schrecklich? Det is doch mein Bruder! wo mich manchmal bei Papans seine Sachen auskloppen helfen dut.
WALBURGA.
Und das Mädchen, was mit dem Rücken am Schornstein sitzt und wimmert?
FRAU JOHN.
Det is deine Mutter nich anders jejangen, eh det du zur Welt jekommen bist.
WALBURGA.
Ich bin hin. Ich bin tot, wenn Papa wiederkommt.
FRAU JOHN.
Na, denn sieh, det de fortkommst, und fackel nich lange. (Frau John begleitet die entsetzte Walburga den Gang hinunter und lässt sie hinaus. Dann kommt sie wieder.) Det Mächen weeß, Jott sei Dank, von hellichten Dache nischt.