Der Waldläufer. Gabriel Ferry
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Tiburcio hielt einen Augenblick inne, als ob er die formlosen Gestalten, die sich vor ihm aufrichteten, wieder zu ordnen suchte; als ob er der unbestimmten Klänge, die nach so vielen Jahren noch an sein Ohr schlugen, sich erinnern wollte.
»Wartet!« fuhr er fort. »Dieser Mann sagte zu mir: ›Knie nieder, mein Kind, und bete für deine Mutter …‹ Aber weiter weiß ich nichts …«
Während dieser Zeit schien der Kanadier, der ganz im Schatten saß, das Haupt auf seine Knie gebeugt, von krampfhaften Zuckungen ergriffen zu werden; ein Schluchzen ließ sich vernehmen, und Tiburcio bebte beim Klang der gebrochenen Stimme Bois-Rosés, der rief: »Und bete für deine Mutter, die ich sterbend bei dir gefunden habe!«
»Ja, ja!« rief Tiburcio, der sich mit einem Sprung erhob. »Geradeso heißt es! Aber Ihr – wer seid Ihr, daß Ihr wissen könnt, was sich in diesem schrecklichen Augenblick ereignet hat?«
Der Kanadier erhob sich, ohne zu antworten, und niederkniend zeigte er noch einmal sein männliches, rauhes Gesicht, von Tränen überströmt, und rief trunken vor Gemütsaufregung: »O mein Gott! Ich wußte wohl, daß, wenn er noch eines Vaters bedurfte, du ihn zu mir gesandt haben würdest! Fabian! Fabian! Ich bin es … ich bin dieser Mann …«
Ein Blitz erhellte das Gesträuch; ein Schuß folgte und schnitt ihm das Wort vom Mund ab; eine Kugel schlug pfeifend dicht bei Tiburcio in die Erde. Pepe erwachte und sprang rasch auf die Füße.
23. Noch immer gilt der Satz: Wo die Macht ist, ist auch das Recht
Es ist nötig, daß wir hier auf die Vergangenheit zurückkommen, um eine Lücke in den vertraulichen Mitteilungen, die der gewesene Soldat und Küstenwächter wegen seiner früheren Verbindungen mit Don Estévan dem Kanadier gemacht hatte, zu vervollständigen. Pepe hätte sagen können, daß der Unbekannte, den er in jener Nacht an der Küste Elanchoves hatte landen lassen, niemand anderer gewesen war als Don Antonio de Mediana, der jüngere Bruder von Fabians Vater.
Er war von einem langen Kreuzzug auf den südlichen Meeren zurückgekehrt, hatte, wie er es dem Senator gesagt hatte, gegen die Unabhängigkeit Mexikos gekämpft und erfuhr nun von der Heirat Dona Luisas mit seinem älteren Bruder. Diese Heirat war doppelt verderblich für ihn. Erstens hatte er Dona Luisa mit der ganzen Leidenschaft der Jugend geliebt; dann hatte infolge einer fast väterlichen Zärtlichkeit sein ältester Bruder, der Graf von Mediana, seiner Mutter versprochen, sich niemals zu verheiraten und Don Antonio die Würden und das Vermögen der Familie zu hinterlassen. Aber das Gerücht seines Todes hatte durch seine lange Abwesenheit Glauben gefunden, und sein ältester Bruder hatte, von seinem Gelübde entbunden, ein altes Geschlecht mit seiner Person nicht aussterben lassen wollen. Er hatte geglaubt, dem Andenken seines Bruders eine feierliche Huldigung darzubringen, wenn er diejenige zu seiner Gemahlin machte, die jener selbst hatte heiraten sollen. Ein Sohn war aus dieser Heirat entsprossen.
Don Antonio erfuhr auf einmal die Vernichtung seiner ehrgeizigen Pläne und den Verlust all seiner Hoffnungen. Im Herzen der Ehrgeizigen ist für die Liebe nur wenig Platz; er hatte darum auch nur das Majorat von Mediana, das er verlor, bedauert; der Wunsch, das Kind verschwinden zu lassen, das ihn sein ganzes Leben hindurch dazu verdammte, nichts als der jüngere Sohn der Familie zu sein, verzehrte jedes andere Rachegefühl.
Da ihm das Kommando einer im südlichen Meer gemachten Prise übertragen war, so hatte er von dem eroberten Schiff nur mit einer geringen Mannschaft Besitz genommen, die ihm vom Befehlshaber der Korvette, auf der er diente, übergeben war. Er hatte keinen Anstand genommen, diese Mannschaft an verschiedenen Landungsorten durch etwa dreißig spanische Abenteurer – verbrecherische Menschen, die er überall angeworben hatte – zu vermehren, und an der Spitze dieser wenig gewissenhaften Menschen war er nach Spanien zurückgekehrt.
Es würde zu weit führen, hier zu erzählen, wie er sich Verbindungen in Elanchove verschafft hatte. Wir nehmen die Erzählung der früheren Ereignisse in dem Augenblick auf, wo er, ganz sicher über das Schweigen Pepes des Schläfers, sich von der Küste entfernte und die Sorge für seinen Nachen den Grenzjägern überließ.
Seitdem sie Witwe war, führte die Gräfin ein noch zurückgezogeneres Leben als früher. Immer mit ihrem Kind eingeschlossen, rief sie ihre dienenden Frauen so selten wie möglich; etwa zur Zeit der Mahlzeiten, die sie auf ihrem Zimmer einnahm.
Zu derselben Stunde, als sich die Szene zwischen Pepe dem Schläfer und dem Unbekannten zutrug – das heißt gegen elf Uhr abends —, war die Gräfin von Mediana wie gewöhnlich in ihrem Schlafzimmer. Dies war ein großes Gemach, in dem die Möbel wie überall im Schloß seit fast einem Jahrhundert nicht erneuert waren und das jenen ernsten Anblick gewährte, der den damaligen Sitten und dem ernsten Charakter der Spanier eigentümlich ist. Eine Lampe, die auf einem Tisch in einer Mauernische brannte, beleuchtete hell nur einen Teil des Zimmers. Das übrige lag im Schatten, und in diesem Halbdunkel konnte man kaum die großen Familienporträts unterscheiden, die von den glühenden Kohlen eines »Brasero« einen tiefen rötlichen Glanz erhielten.
Zwei bis auf den Boden herabreichende Fenster führten auf einen großen Balkon hinaus, der sich nur etwa zwanzig Fuß über der Erde befand. Durch die Fensterscheiben sah man einen dunklen Himmel und die weiße Linie, die Meer und Himmel bei ihrer Vereinigung bildeten.
Die Augen der Gräfin flogen über diese traurige Aussicht mit einem Ausdruck des Nachdenkens und des Gebets, dann richteten sie sich wieder auf die Wiege, in der ihr schlafendes Kind ruhte.
Die Gräfin von Mediana schien kaum dreiundzwanzig Jahre alt zu sein. Von Natur bleich, wie es die Andalusierinnen gewöhnlich sind – sie war in Granada geboren —, erschien sie noch bleicher in dem strengen Trauerkleid der Witwe, das sie trug. Eine leichte senkrechte Falte, die sich zwischen ihren Augenbrauen zu bilden begann, zeugte von einem bedachtsamen Charakter, während ihr anmutsvoll gekräuselter Mund das süßeste Lächeln versprach. Ihre schwarzen, samtfarbigen Augen bestätigten, was der Mund verhieß; nichtsdestoweniger war es leicht, auf ihrer stark gewölbten Stirn und in den Linien ihrer leicht gekrümmten Adlernase die Unbeugsamkeit des Willens und die Gewalt der Leidenschaft zu lesen.
Das war ein unterscheidender Zug, den Tiburcio – oder vielmehr Fabian – von seiner Mutter hatte.
Die wie Ebenholz schwarzen Haare Doña Luisas rahmten in zwei glänzenden Flechten ein Gesicht ein, das verführerisch während der Ruhe war, das bezaubernd in der Aufregung und von einer schrecklichen Schönheit im Zorn sein mußte. Ihre Hände endlich waren von blendender Weiße und der Form nach vollkommen; ihre Füße klein und zart, ihre Taille elegant; alles an der Gräfin rechtfertigte die Leidenschaft, die zwei Brüder für sie hatten ergreifen können, denn wir müssen es gestehen, daß der Wunsch, seine Familie nicht aussterben zu lassen, nicht der einzige Grund zur Heirat Don Juans de Mediana mit Doña Luisa gewesen war.
Nach einigen Minuten tiefen Nachsinnens nahm die Gräfin eine Lampe, die sie auf einen Leuchterstuhl setzte, daß ihr Schein die Züge ihres in der Wiege schlafenden Sohnes beleuchtete. Dieser schlief jenen tiefen Schlaf der Kindheit, der zu sehr dem Tod gleichen würde, wenn man nicht sozusagen Leben und Blut unter dem leichten Gewebe, das sie umgibt, ihren Kreislauf vollenden sähe. Sie betrachtete lange Zeit dieses kindliche Gesicht, das halb unter einer Flut von Haaren von jenem hellen Kastanienbraun verborgen war, das später ein schönes schwarzes Haar zu werden verspricht; aber ihre Blicke schienen auf seinen rosigen Wangen und seinen roten Lippen mit ebensoviel Neugier wie Zärtlichkeit zu ruhen. Man hätte sagen können, daß sie in den Zügen ihres Kindes die Zukunft zu lesen versuchte.
Die Gräfin machte es nun wie alle Mütter im gleichen Fall: Sie drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf seine Wangen, gleichsam, um ihren Sohn mit einem schützenden Zauber zu umgeben oder ihn zu versichern, daß wenigstens die Mutterliebe ihm nie im Leben fehlen solle.
Über