Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund. Sonnleitner Alois Theodor
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Seine Mutter, auch eine Flüchtige, wie es damals viele im Lande gab, war im einsamen Bergwald bei der Geburt eines toten Mädchens in den Armen der ihr völlig fremden alten Frau gestorben. Die Stoderin hatte sie begraben und mit dem verwaisten Buben ein Gebet gesprochen. Als könnte es gar nicht anders sein, führte sie ihn an der Hand mit sich fort und brachte ihn heim in die Geiergräben; auch ihm wurde sie eine fürsorgende Ahnl. Peter war ein früh gereifter, fleißiger Bub.
Er und Eva gewöhnten sich rasch aneinander — ja, die stille Eva wurde zusehends heiterer und gesprächiger.
Der kräftige Junge half unermüdlich beim Einschleppen von Holzvorräten und beim Heuen und erwies sich auch beim Kräutersuchen und Wurzelgraben, beim Sammeln von Pilzen als gelehrig und geschickt. Besser denn je zuvor konnte die Stoderin ihrer Sammelarbeit nachgehen und zeitweise ihre Talwanderungen unbesorgt tagelang ausdehnen. Für die verlorene Ziege tauschte sie nach und nach mehrfach Ersatz ein, und Peter wurde ein verläßlicher Ziegenhirt, der seine kleine Herde beisammenzuhalten wußte. Die Tageszeiten las er vom Stand der Sonne ab; Größe und Gestalt des Mondes sagten ihm, welche Woche es war. Sein Verstand entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre durch die Anforderungen der Arbeit, durch Beobachtung der Wetterzeichen und nicht zuletzt durch die Erklärungen der alten Stoderin über die Wirkung der Gift- und Heilkräuter. Sie behandelte den Jungen bald wie einen verständigen Erwachsenen und besprach mit ihm alles, was mit ihrer und seiner Arbeit zusammenhing. Mit dreizehn Jahren war er ein tüchtiger Hirt, der den Muttertieren alle Sorgfalt angedeihen ließ. Je mehr die Stoderin den Buben liebgewann, um so öfter sprach sie zu ihm von ihren Heilerfolgen bei Menschen und Tieren; es war, als wollte sie ihm alle ihre Erfahrungen vererben. Was Peter im Gebirge an Wundern erschaute und erlauschte, verwob sich mit den Erzählungen der alten Frau zu einem Bild von der Welt, das reich an Vermutungen und Irrtümern war. Von dem, was er an der Seite der Mutter gelernt hatte, vergaß er vieles.
Alles Wissen der alten Stoderin von den Heilkräutern war ein Erbe vergangener Geschlechter und Zeiten und samt den Pflanzennamen, die an längst vergessene Götter, Holde und Trolle erinnerten, überliefert worden. Die Heckenrose, deren Gallen sie als Schlafmittel sammelte, nannte sie »Friggadorn«, die Hauswurz »Wodansbart«, die Mistel »Marentaken«, die Tollkirsche »Lokiwurz«. Die Blüten der Ragwurz, »Frauentränen«, gemahnten an die »Liebe Frau« der Vorfahren, an Freia, die als blaublühende »Wegwarte« der Heimkehr ihres Gatten Odin harrt.
Peter kannte die eßbaren Kräuter und Wurzeln der Alpenwelt bald so gut, daß er draußen um eine Mahlzeit nie verlegen war. Wenn es ihm an Quellwasser fehlte, kaute er saftigen Sauerklee und löschte so seinen Durst. Vor den Tollkirschen, vor den appetitlichen Beeren des Seidelbastes und anderer Giftpflanzen war er gewarnt; er kannte die gefährlichen Pilze und vermied sie wie die Ziegen die giftigen Blätter der Nieswurz. Alles, was die Ahnl dem Peter beim gemeinsamen Kräutersammeln mitteilte, erzählte er Eva. Und während sie, allein gelassen, die gesammelten Pflanzen und Pilze verlas, schnitt und trocknete, war sie mit ihren Gedanken in einer Welt des Wundersamen und Geheimisvollen.
Der Sonntag war der einzige Tag, an dem die Kinder in ihrer Märchenwelt schwelgen konnten. Die alte Stoderin wußte nichts von den Sonntagsbräuchen der heidnischen Vorfahren. Verwirrt vom Glaubensstreit der Zeitgenossen, hielt sie jedoch daran fest, daß nach der harten Arbeitswoche der heilige Tag ein Feiertag sein sollte, durch keine grobe Arbeit entweiht. Dann führte Peter seine Gefährtin auf die hochgelegenen Halden, wo Edelweiß und leuchtend rote Alpenrosen prangten.
Da die Geiergräben mehr als eine Tagreise weit vom nächsten Kirchdorf entfernt waren, wußten nur wenige Menschen von den Höhlensiedlern, und niemand kümmerte sich darum, daß die Kinder bei der Stoderin fast als Heiden aufwuchsen. Aber es war kein reines Heidentum. Ab und zu entnahmen sie aus einem Stoßseufzer der Ahnl, daß sie mit einem allmächtigen Gott sprach, dem Allvater, der aber nicht zu sehen war.
Peter arbeitete gern und war stolz, wenn die Ahnl zu ihm sagte: »Du schaffst wie ein Großer!«
Auch dem Ähnl war der Junge ans Herz gewachsen. Er zeigte ihm, wie man von grünen Weidenschößlingen durch Klopfen die Rinde lösen und daraus Hirtenflöten machen kann. Unermüdlich schleppte er für den Jungen heim, was er an Kristallen im Urgestein fand, aber auch Mergelplatten aus dem Kalkgebirge, sonderbar geformte Baumschwämme, Knorren, Garns- und Rehkrickel aus dem Lawinenschutt. Peter barg in seinem Winkel auf dem Dachboden einen reichen Schatz, den er durch neue Funde vermehrte, ohne mit den Dingen viel anfangen zu können, weil die Arbeit ihm keine Zeit ließ. Nur an regnerischen Sonntagen, wenn er die Haustiere versorgt, Holz und Wasser geschleppt hatte, pflegte er seine Schätze vor Eva auszukramen und hatte seine Freude daran. Ab und zu regte ihn die Form eines Gegenstandes an, daraus ein Gerät zu basteln. So diente ihm ein Ziegenhorn als Scheide für den Wetzstein zu seiner Sichel, und einen dünnen Bergkristall benützte er als Griffel, mit dem er so gut es ging die Umrisse von Tieren und Menschen in die Mergelplatten ritzte.
War Peter mit seinen Ziegen allein im Gefels, so vertrieb er sich die Zeit nach Hirtenbubenart: Er warf mit Steinen nach allerlei Zielen. Bald gelang es ihm, einen faustgroßen Steinbrocken, den er auf die Spitze eines Felsens gelegt hatte, aus ziemlicher Entfernung zu treffen und wurde darin so geschickt, daß er ein Murmeltier vor dem Bau und einen Alpenhasen beim Äsen erlegte. So steuerte er wie ein Jäger der grauen Vorzeit manches Stück Wildbret für die Küche bei und schulte Auge und Hand. Für die Bälge der erlegten Tiere, die Peter sorgfältig abgezogen hatte, tauschte die Ahnl bei den Bauern allerlei Eßbares ein.
Der altwerdende Köhler Hans pries den Tag, an dem Peter ins Haus gekommen war; nun brauchte ihm vor den Jahren der Gebrechlichkeit nicht mehr angst zu sein. Und wenn er mit seiner weißhaarigen Schwester ausruhend vor der Hütte saß, sprachen beide davon, daß Eva einst Peters Frau werden sollte.
Da kam wieder Unglück in das bescheidene Leben dieser Menschen. An einem Sommernachmittag hielt der Knecht des Kohlenbauern mit seinem Ochsengespann am Meiler. Er erzählte, im Stall eines Bauern, der die alte Stoderin in der Futterkammer hatte übernachten lassen, sei die Klauenseuche ausgebrochen. Das alte Gerücht, die Stoderin sei eine Hexe, sei wieder laut geworden, und die Meraner Gerichtsbarkeit habe Soldknechte ausgeschickt, sie gefangen zu nehmen. Daß ein Hexenprozeß nicht nur der Greisin den Martertod, sondern auch ihren Angehörigen Unheil bringen konnte, das wußten die beiden Alten nur zu gut. Noch am Abend mußten sie mit den beiden Kindern nach dem Heimlichen Grund aufbrechen. Die Stoderin verkleidete sich als Mann, um wenigstens von weitem Verfolger zu täuschen.
Über pfadlose Schutthalden stiegen sie empor zu einem Gebirgssattel, der südwärts führte.
Die Flucht zum Heimlichen Grund
Am Tage verbargen sie sich in den Schluchten, bei Nacht zogen sie weiter, und am dritten Morgen langten sie auf der Höhe einer Glimmerschieferhalde an. Mit rundlichen Blöcken bedeckt, fiel sie sanft ab zu einem tiefausgewaschenen Tal, aus dessen Bodennebeln vereinzelte Zirbelkiefern undeutlich aufragten. Jenseits des Baches hingen rostgelbe, vom Wasser unterhöhlte Kalkwände über, in denen sich als schwarzer, nach oben weit auseinanderklaffender Riß die Teufelsklamm abzeichnete.
Ohne Deckung wagten sie es nicht, bei Tag den langwierigen Abstieg zu unternehmen. Und todmüde waren sie auch. Jeder bekam ein Stück steinhartes Brot und trockenen Käse, und dann kauerten sich die Kinder mit der Ahnl auf dem harten Boden zum Schlafe hin. An einen Felsblock gelehnt, hielt der Alte scharf Ausschau, ob nicht irgendwo ein Verfolger auftauchte.
Gewohnt,