Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Andreas-Salomé Lou
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Wer Nietzsches Zickzack-Pfaden bis zuletzt folgt, der tritt dicht an diesen Punkt heran, wo er sich, im Grauen vor einer letzten Aufklärung und Problemlösung, endgiltig in die ewigen Räthsel der Mystik hinabstürzt. —
Die Geistesbegabung Nietzsches zeichnete sich aber noch durch zwei Eigenschaften aus, die in gleicher Weise dem Philologen wie später dem Philosophen zu statten kamen. Die erste war sein Talent für Subtilitäten, seine Genialität in der Behandlung feinster Dinge, die von einer zarten und sichern Hand angefasst sein wollen, um nicht verwischt und entstellt zu werden. Es ist dasselbe, was ihn später nach meinem Dafürhalten als Psychologen noch mehr fein als gross erscheinen lässt, – oder lieber: am grössten im Erfassen und Gestalten von Feinheiten. Höchst bezeichnend ist dafür der Ausdruck, den er einmal (Der Fall Wagner 3) von den Dingen gebraucht, wie sie sich dem Blick des Erkennenden darstellen: »Das Filigran der Dinge«.
In Verbindung mit diesem Zuge steht die Neigung, Verborgenem und Heimlichem nachzuspüren, Verstecktes ans Licht zu ziehen – ; der Blick für das Dunkel, und die instinctiv ergänzende Anempfindung und Nachempfindung, wo dem Wissen Lücken bleiben. Ein grosser Theil von Nietzsches Genialität beruht hierauf. Es hängt dies aufs engste mit seiner hohen künstlerischen Kraft zusammen, in der sich der Blick für das Feine und Einzelne in wundervoller Weise zu einem grossen, freien Schauen des Zusammenhanges, des Gesammtbildes erweitert. Im Dienste strengphilologischer Kritik hat er dieses Talent geübt, um aus den Texten das Verblasste und Vergessene gewissenhaft herauszulesen,16– aber in diesem Bemühen ist er zugleich schon über seine rein gelehrten Studien hinausgeführt worden. Der Weg, auf dem dieses geschah, führt uns zu seiner bedeutendsten philologischen Arbeit, zu der Arbeit über die Quellen des Diogenes Laertius.
Denn die Beschäftigung mit dieser Schrift wurde für ihn der Anlass, dem Leben der alten griechischen Philosophen und seiner Beziehung zum Gesammtleben der Griechen nachzugehen. In seinen späteren Werken kommt er einmal darauf zu sprechen (Menschliches, Allzumenschliches I 261). Man sieht es, wie er über den Trümmern der Ueberlieferung gesessen und gegrübelt haben mag, in die Lücken, in die entstellten Theile die verlornen Gestalten hineindichtend, sie nachschaffend und entzückt wandelnd »unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus«. Er schaut hinein in die Dämmerung jener Zeiten »wie in eine Bildner-Werkstätte solcher Typen«. Und es ergreift ihn wunderbar, sich vorzustellen, dass dort die Ansätze gelegen haben mögen zu einem noch höhern Philosophentypus, wie ihn vielleicht Plato »von der sokratischen Verzauberung frei geblieben« gefunden hätte. Dies Alles ist aber mehr als ein blosser Uebergang vom Philologen zum Philosophen. Was sich da in seinen sehnsüchtig schaffenden Gedanken verrieth, während er gezwungen war, trockene Kritik zu üben, legt schon den letzten und höchsten Punkt seines Ehrgeizes bloss; nicht umsonst ist es gewesen, dass Nietzsche in die Philosophie nicht auf dem Wege abstracter philosophischer Fachstudien eintrat, sondern auf dem einer tiefen Auffassung des philosophischen Lebens in seiner innersten Bedeutung. Und wenn wir das Ziel bezeichnen wollten, welchem durch alle Wandlungen hindurch die Kämpfe dieses unersättlichen Geistes galten, so vermöchten wir dafür kein bezeichnenderes Wort zu finden als das von der ersehnten Entdeckung »einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen Möglichkeit des philosophischen Lebens«. (Menschliches, Allzumenschliches i 261.)
So steht jene rein philologische Schrift dicht vor der ganzen Reihe der späteren Werke, – einer kleinen, in der Mauer halb verborgenen Pforte vergleichbar, die in ein umfangreiches Gebäude einführt. Wenn wir sie öffnen, streift unser Blick schon die lange Flucht der Innenräume, bis zum letzten, zum dunkelsten. Und wer hier auf der Schwelle stehen bleibt und hindurchblickt, der vermag der gewaltigen Kraft nicht ohne Staunen zu gedenken, die Stein um Stein zu einem Ganzen fügte: einer Kraft, die jeden Einzeltheil mit verschwenderischem Reichthum ausschmückte, ihn spielend zu so zahllosen Seitengängen und verborgenen Verstecken ausbaute, als beabsichtige sie ein Labyrinth, – und die dennoch mit eiserner Consequenz stets in gerader Grundlinie an ihrem Werke weiter schuf.
An seinen griechischen Studien ging aber Nietzsche nicht nur die Ahnung seines innerlichsten Strebens und die erste Fernsicht auf das Ziel seiner geheimen Sehnsucht auf, sondern sie wiesen ihm auch den Weg, auf dem er sich diesem Ziel nähern konnte. Denn sie waren es, die ihm das ganze Culturbild des alten Hellenenthums zeigten, die ihm jene Bilder einer versunkenen Kunst und Religion entrollten, in deren Anschauen er in durstigen Zügen »frisches volles Leben« trank. So stellt er seine philologische Gelehrsamkeit in den Dienst culturhistorischer, ästhetischer, geschichtsphilosophischer Forschung und überwindet ihren Formalismus.
Es verwandelt und vertieft sich für ihn damit die Bedeutung der Philologie, »die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten, böotischen Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen, und erzählt tröstend von den lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes«.
Diese Worte sind der Antrittsvorlesung Nietzsches an der Baseler Universität »Homer und die Klassische Philologie« (24) entnommen, die (Basel 1869) nur für Freunde gedruckt worden ist. Zwei Jahre später erschien (Basel 1871) eine andere kleine Schrift derselben Geistesrichtung: »Sokrates und die griechische Tragödie«, welche indessen fast vollständig, mit nur äusserlichen Umstellungen des Gedankenzusammenhangs, in das 1872 veröffentlichte erste grössere philosophische Werk Nietzsches: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (Leipzig, E. W. Fritsch, jetzt C. G. Naumann)17 aufgenommen worden ist. In diesen beiden Arbeiten baute Nietzsche seine culturphilosophischen Ausführungen noch auf streng philologischer Grundlage auf; und sie alle haben dazu beigetragen, seinen Namen unter den philologischen Fachgenossen zu verbreiten. Dennoch bezeichnen sie schon den Weg, den er, von seinem ursprünglichen Fachstudium aus, durch Kunst und Geschichte hindurch, zurückgelegt hatte, um schliesslich in die geschlossene Weltanschauung einer bestimmten Philosophie einzutreten. Es war die Weltanschauung Richard Wagners, die Verknüpfung seines Kunststrebens mit Schopenhauers Metaphysik. Wenn wir das Werk aufschlagen, so befinden wir uns mitten im Bannkreis des Meisters von Bayreuth.
Durch ihn erst vollzog sich für Nietzsche die volle Verschmelzung von Philologenthum und Philosophenthum, wurde erst jenes Wort wahr, womit er seinen »Homer und die klassische Philologie« schliesst, indem er einen Ausspruch des Seneca umkehrt: »philosophia facta est quae philologia fuit,« »damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt.«
Der Zauber, der Nietzsche auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners machte, erklärt sich namentlich daraus, dass Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur verwirklichen wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im Grunde nichts anderes hinzu, als eine Steigerung dieses Ideals ins Mystische, ins
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Er hat so gelesen, wie er es einmal »gut lesen« nennt: » – das heisst langsam, tief, vor- und rücksichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen – « (Einführende Vorrede zur neuen Ausgabe der Morgenröthe 11.)
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Dieses Buch erregte bei seinem Erscheinen das lebhafteste Missfallen der philologischen Zunft; hatte der Verfasser es doch gewagt, seinen Ausführungen nicht nur die Lehren des verpönten Philosophen Arthur Schopenhauer, sondern auch die künstlerischen Anschauungen des damals noch ebenso geschmähten »Zukunftsmusikers« Richard Wagner zu Grunde zu legen. Ein junger philologischer Heisssporn, Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf, der jetzt zu den hervorragenden Vertretern der classischen Philologie in Deutschland gehört, machte sich in nicht besonders glücklicher und geschmackvoller Weise zum Sprachrohr zünftiger Einseitigkeit. Ohne der Eigenart des Nietzscheschen Buches irgendwie gerecht zu werden, griff er es in der Broschüre »Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf F. N.'s »gebürt der tragödie«, Berlin 1872, von einem beschränkt philologischen Standpunkte auf das heftigste an. Für den Angegriffenen traten in die Schranken derjenige, an den vor Allen das Buch gerichtet war, Richard Wagner, der Künstler, in einem in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vom 23. Juni 1872 abgedruckten offenen Briefe an Friedrich Nietzsche, und Erwin Rohde, der bereits damals von seiner tiefen Kenntnis des griechischen Alterthums die vollgiltigsten Proben abgelegt hatte. In der ausgezeichnet geschriebenen Streitschrift: »Afterphilologie. Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner«, Leipzig 1872, stellte er sich auf den von dem Gegner gewählten Boden und wies die von diesem gemachten Einwände und Beschuldigungen zurück, worauf v. Wilamowitz dann noch mit einer Duplik, »Zukunftsphilologie! Zweites Stück, eine erwidrung auf die rettungsversuche für F. N.'s »gebürt der tragödie«, Berlin 1873, antwortete.