Die Träger des deutschen Idealismus. Eucken Rudolf
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Wenn Kant von der Moral als der herrschenden Macht alle Lebensgebiete gestaltet, so mag das eine große Gefahr für die Entfaltung der Eigentümlichkeit dieser dünken. In Wahrheit ist eine Verengung nicht zu leugnen, da Kant die Moral lediglich auf das Verhältnis zu Menschen beschränkt, nur Pflichten des Menschen gegen Menschen kennt. Andererseits verhindert die hohe Fassung der Moral als eines Reiches der Freiheit und Selbsttätigkeit mit Sicherheit ein Sinken zu einem bloßen Moralismus, der alles nur daraufhin ansieht, wie weit es der Besserung der Individuen nütze; die Moral greift hier weniger in den näheren Bestand der Gebiete ein, als sie ihrem Ganzen die Richtung auf höchste Zwecke, auf jenes Reich der Freiheit gibt; so wirkt sie konzentrierend, klärend und kräftigend auf den ganzen Umfang des Lebens.
Kant und die Religion
Am wenigsten erlangt wohl ihr volles Recht die Religion, wenn sie als »die Erkenntnis aller unsrer Pflichten als göttlicher Gebote« verstanden wird. Denn streng genommen würde sie damit ein bloßes Mittel zur Verstärkung der Moral, und es wäre dabei nicht einmal gewiß, ob das bloß eine Hilfe für menschliche Schwäche wäre, die ein Starker wohl auch entbehren könnte, oder ob sie eine Wahrheit aus eigenem Rechte besitzt. Was aber den Inhalt betrifft, so liegt nach Kant in der Religion aller Wert am Tun. Dabei läßt sich vollauf anerkennen, daß der eigentümliche Charakter der Religion wenig zur Geltung kommt, und doch die Energie bewundern, mit der die moralische Seite der Religion hervorgekehrt, allem Scheinwesen in ihr widerstanden, ihr Leben vor allem in unmittelbare Gegenwart gestellt wird. Bezeichnend sind hier die Worte: »Alles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes,« und die anderen: »daß ein Geschichtsglaube Pflicht sei und zur Seligkeit gehöre, ist Aberglaube.« Es ist aber »Aberglaube der Hang, in das, was als nicht natürlicherweise zugehend vermeint wird, ein größeres Vertrauen zu setzen, als was sich nach Naturgesetzen erklären läßt, – es sei im Physischen oder Moralischen«. Kant ist darum besorgt, daß die Selbständigkeit der Moral durch ihre Verkettung mit der Religion Schaden leide; so dringt er mit höchstem Eifer darauf, daß nicht die Moral auf die Religion, sondern die Religion auf die Moral gegründet werde. Kants persönliche Religion war ohne Zweifel weit reicher und tiefer als die von ihm in Begriffe gefaßte, ein Bewußtsein der Abhängigkeit von einer höheren Macht und ein Vertrauen auf diese Macht geht durch alle seine Schriften. Ein bloßer Moralist konnte nicht sagen, daß, wenn man von einem letzten Zwecke der Welt sprechen dürfe, er nicht in der Glückseligkeit der vernünftigen Wesen zu suchen sei, sondern in der Ehre Gottes.
Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit
Zu größerem Reichtum entfaltet sich die moralische Grundanschauung Kants in der Gestaltung des menschlichen Zusammenseins. Hier haben sich in allen Verhältnissen die beiden Tugenden zu bewähren, die ihm als die höchsten gelten: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit geht in erster Linie nicht gegen andere, sondern gegen uns selbst, in der Lüge und Unaufrichtigkeit schaden wir vornehmlich uns selbst, indem wir dadurch die Achtung zerstören, die wir uns selbst als einem moralischen Wesen schulden. Zur Pflicht der Wahrhaftigkeit gehört auch, daß wir überall aus selbständiger Entscheidung und eigner Überzeugung handeln, auch uns davor hüten, blinde und äußere Bekenntnisse nachzusprechen. Gewiß schützt auch strenge Gewissenhaftigkeit uns nicht vor Irrung, aber diese trifft dann nicht unsere Gesinnung. »Es kann sein, daß nicht alles wahr ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren), aber in allem, was er sagt, muß er wahrhaft sein.«
Das Verhältnis der Menschen untereinander werde aber durch die Idee der Gerechtigkeit bestimmt, sowohl im privaten Verkehr als im Staate als im weltbürgerlichen Verkehr der Völker. Wie hoch Kant von der Gerechtigkeit denkt, das zeigen die Worte: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben«; von der Ungerechtigkeit aber sagt er: »Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit, alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen.«
Demnach empfiehlt es sich, das Verhältnis von Mensch zu Mensch mehr auf Gerechtigkeit und gegenseitige Achtung als auf Liebe zu stellen. Liebe kann nicht geboten werden, und Mitleid ist kein großes Gegenmittel gegen den Eigennutz. Es fällt hier stark ins Gewicht, daß Kant wenig von den Neigungen des Menschen hält und sie viel zu veränderlich findet, um auf sie unser Leben zu bauen.
Aus der Selbstachtung aber, die ich als Glied eines Reiches der Freiheit haben darf, geht unmittelbar eine Achtung auch der anderen hervor; umgekehrt läßt sich sagen, daß, wo diese Achtung fehlt, es im Grunde auch an echter Selbstachtung gebricht. »Der Hochmütige ist jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig.«
Kants Staatsideal
Im Staatswesen aber wirkt die Kantische Grundüberzeugung zur Voranstellung der Ideen Recht und Freiheit. Die hohe Schätzung der Freiheit, welche Kant im Ganzen des Lebens bekundet, muß natürlich auch hierher wirken; vom Recht aber sagt er, daß es der Augapfel Gottes auf Erden sei. Der enge Zusammenhang von Recht und Freiheit erhellt aus der Definition des Rechts als »des Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. Den Staat aber definiert er als eine »Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen«. So ist der Staat hier vor allem Rechtsgemeinschaft, er gilt als von den Individuen her entstanden; mag Kant seine Entstehung aus einem Vertrage als Faktum bekämpfen, als Idee hält er sie fest. So kann hier von einem nationalen Staate, auch von einem Kulturstaate nicht die Rede sein; diese Begriffe blieben einer späteren Entwicklung vorbehalten. In die nähere Ausführung wirken Gedanken ein, welche die Französische Revolution, namentlich ihr Beginn, auch in Deutschland weiten Kreisen zugeführt hatte. Die Forderungen der Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit spielen bei Kant eine große Rolle, aber er hat sie ethisch vertieft und auch in der näheren Ausführung maßvoll gestaltet. Sein politisches Ideal ist eine Repräsentationsverfassung, »alle wahre Republik ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System im Volke«. Bei aller Freiheitsliebe hat er wenig Sympathie für die Demokratie, er sieht in ihr eine Gefahr für die Freiheit des einzelnen, die ihm besonders am Herzen liegt, »Volksmajestät« erklärt er für einen »ungereimten Ausdruck«. Eine nahe Verwandtschaft mit den Lehren des englischen Liberalismus ist in diesem Aufbau des Staates von den Individuen her nicht zu verkennen, aber solche Verwandtschaft darf erhebliche innere Unterschiede nicht übersehen lassen. Dort ist es der Mensch, wie er leibt und lebt, dem die Freiheit und mit ihr ein hoher Wert zuerkannt wird, bei Kant ist es die Persönlichkeit als Glied einer sittlichen Welt; dort ist das höchste Ziel das Wohlergehen der Gesellschaft, bei Kant dagegen die Begründung eines Reiches der Freiheit und Gerechtigkeit auf dem eigenen Boden der Menschheit; dort mußte man, um die eigenen Ziele erreichbar zu finden, den Menschen moralisch vortrefflich denken und ihn damit idealisieren, bei Kant verhindert, wie wir sahen, alle Hochschätzung der Vernunft im Menschenwesen nicht die volle Anerkennung schwerer Mängel und Schäden. Es hängt damit eng zusammen, daß seine Art der Freiheit keine Weichheit kennt, vielmehr einen strengen Charakter hat; dafür ist z. B. bezeichnend die entschiedene Verteidigung der Todesstrafe als einer Forderung der Gerechtigkeit.
Das Verlangen einer Ordnung der menschlichen Verhältnisse aus der Idee der Gerechtigkeit hat Kant auch auf das Verhältnis der Völker ausgedehnt und auch für die äußere Politik eine Leitung durch die Idee des Rechts verlangt. Hier stößt er besonders hart mit den Durchschnittsverhältnissen und auch mit den Durchschnittsmeinungen zusammen, aber hier zeigt er auch besonders deutlich die unbeugsame Festigkeit seiner Überzeugung, sein Vermögen, unbeirrt durch allen Widerspruch mit ruhiger Kraft den eigenen Weg zu verfolgen. Mit größter Energie tritt er dafür ein, daß nie das Recht der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepaßt werde. Was eine vom Rechte absehende Politik an äußeren Vorteilen etwa gewinnen lassen kann, das wiegt nach seiner Überzeugung weitaus nicht den Schaden auf, der aus der Geringachtung dessen hervorgeht, was dem menschlichen Leben allein einen Wert zu geben vermag. Wohl ist, so meint er, Ehrlichkeit nicht