Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte. Marie von Ebner-Eschenbach

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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte - Marie von Ebner-Eschenbach

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Dame ein sehr reich mit Butter bestrichenes Gnadenbrot genoß.

      „Olga, Duschenka moja,“5 sprach sie, „denke vor allem an dein ewiges Heil!“

      Mit Schrecken hatte die Schloßdame das leise Sinken des Enthusiasmus ihrer Gäste wahrgenommen, indessen sie selbst nach der siebenten Tasse Tee auf dem Gipfel der Begeisterung angelangt war. Die Greisin goß mit ihrer Ermahnung Öl ins Feuer. Es schlug auch sogleich lichterloh empor in dem lauten, feierlichen Ausrufe:

      „Alles für Polen! Mein zeitliches und mein ewiges Heil!“

      Gräfin Aniela warf sich, ganz entzückt von dieser Größe, ihrer Freundin in die Arme, die Herren küßten die Hände der Patriotinnen. Einer von ihnen erbat sich die Ehre, aus dem Schuh der Hausfrau trinken zu dürfen. Sie gestattete es aber nicht, aus Rücksicht für den erhabenen Ernst dieser Stunde, und der Abgewiesene setzte sich ans Klavier und intonierte ein melancholisches Nationallied.

      Alle schwiegen, alle horchten gerührt; in manches Auge traten Tränen.

      Die unwiderstehliche Macht dieses Gesanges ergriff sogar einen, der bisher unbeweglich in einer Fensterecke gestanden und am Gespräch nicht teilgenommen hatte.

      Rosenzweig kannte ihn nicht und war in angestammtem Mißtrauen geneigt gewesen, ihn, seiner auffallenden Blässe wegen, für einen der verschämten Patienten zu halten, die sich berühmten Ärzten so gern auf neutralem Gebiet in den Weg stellen, um im Vorübergehen eine Konsultation abzuhalten, für die sie später das Honorar schuldig bleiben.

      Indessen hatte Rosenzweig sich geirrt. Der Fremde machte keinen Versuch, in seine Nähe zu gelangen, während er selbst nicht mehr vermochte, seine Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.

      Er war ein mittelgroßer, schlanker Mann mit blondem, dünnem Bart, mit blauen, offenbar sehr kurzsichtigen Augen. Der Eindruck eines ungemein regen Geisteslebens, den seine Züge hervorbrachten, wurde durch die Blässe erhöht, die den Doktor anfangs verleitet hatte, ihn für einen Kranken zu halten. Doch auch von dieser Meinung war er bald abgekommen. Krankheit vergeistigt nicht, wie die Poeten oft behaupten, sie zeichnet vielmehr die Kinder des Staubes mit deutlichen Merkmalen ihrer Abkunft.

      In dem Wesen dieses Mannes aber gab sich kein Zeichen von körperlicher Mühsal kund. Die Leidensspuren auf seiner marmorgleichen Stirn waren durch rastlos arbeitende Gedanken ausgeprägt worden und der Schmerzenszug um den jungen Mund durch frühe, schwere Seelenkämpfe. Die Geringschätzung, mit der das Treiben der Gesellschaft ihn zu erfüllen schien, wurde allmählich besiegt. Die Klänge des schönen Volksliedes ergriffen und bewegten auch ihn. Eine Empfindung verband ihn mit seinen Brüdern: Sehnsucht, leidenschaftlich heiße Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland.

      An diesem Leidensborn hat kein Volk sich so übersatt getrunken wie das, aus dessen Herzen solch ein Lied geströmt. Es singt von dem verirrten Sohne, der heimkehrt zum Elternhaus, voll Reue und glühender Liebe. Zagend steht er an der verschlossenen Tür und hört die Stimme seines Vaters, die nach ihm ruft, und hört das Weinen seiner Mutter … Vater! Mutter! stöhnt er. Sie antworten: Komm! Erlöse uns, wir liegen in Banden … Er rüttelt an der eisernen Pforte, zerpocht sich die Hände, zerschlägt sich die Stirn, schon fließt sein Blut. Vergeblich. Nie wird diese Pforte weichen, nie vermag er sie aus den Angeln zu heben. – Er wird auf der Schwelle verschmachten.

      Der Gesang war verstummt, und die Stille, die ihm folgte, wurde erst nach einer Weile durch die Wirtin unterbrochen, die sich erhob, auf den Fremden zuschritt und leise mit ihm zu parlamentieren begann.

      Die stattliche Dame machte sich förmlich klein vor ihrem Gast; jede ihrer Mienen bezeugte Ehrfurcht, jede ihrer Gebärden war Huldigung.

      Sie faltete die Hände und flehte:

      „Sprechen Sie, o sprechen Sie zu der Versammlung!“

      Die Aufforderung der Hausfrau fand lebhafte Unterstützung.

      „Ach ja, sprechen Sie!“ riefen viele Stimmen durcheinander. – „Es würde uns beseligen.“ – „Wir wagten nur noch nicht, Sie darum zu bitten.“ – „Aus Bescheidenheit.“

      Alle kamen heran, sehr freundlich, mit auserlesener Höflichkeit – keiner ohne eine gewisse Scheu. Sogar die siegessichere Gräfin Aniela war befangen, und ihre anmutigen Lippen zitterten ein wenig, als sie sprach:

      „Geben Sie uns eine Probe Ihrer wunderbaren Beredsamkeit, von der wir schon so viel gehört haben. Man sagt, daß Sie steinerne Herzen zu rühren und moralisch Tote zu den größten Taten zu wecken vermögen.“

      Der Fremde lachte, und dieses Lachen war hell und frisch, wie das eines Kindes. Unwillkürlich mußte Rosenzweig denken: Du hast eine unschuldige Seele.

      „Wie heißt der Mann?“ fragte er die Hausfrau.

      Sie errötete und gab mit nicht sehr glücklich gespielter Unbefangenheit zur Antwort:

      „Es ist mein Cousin Roswadowski aus dem Königreich.“

      Niemals hatte der Doktor von einem berühmten Redner Roswadowski auch nur das geringste gehört; aber was lag daran? In Zeiten nationaler Erhebung pflegen ja von heut auf morgen nationale Größen aus dem Boden zu wachsen.

      Roswadowski erwiderte den Blick, den der Arzt auf ihm ruhen ließ, mit einem ebenso forschend gespannten, und sich leicht gegen ihn verneigend, sagte er:

      „Bitten Sie doch Herrn Doktor Rosenzweig zu sprechen. Er möge Ihnen sagen, was er von der Revolution erwartet.“

      „Das wissen wir im voraus,“ entgegnete Aniela, „wie jeder gute Pole, die Wiederherstellung des Reiches, das allgemeine Wohl!“

      „Olga, Duschenka moja,“ ließ wieder die Großtante sich vernehmen, „sage deiner Freundin, daß keiner ein guter Pole ist, der nicht ein guter Katholik ist.“

      Ohne auf die Unterbrechung zu achten, fuhr Roswadowski fort:

      „Das allgemeine Wohl soll jedes besondere in sich begreifen, also auch das dieses Mannes und seiner Glaubensgenossen. Warum höre ich keinen von euch, die ihr seines Lobes voll seid, davon sprechen, daß ihr die Schuld abzutragen gedenkt, in der wir alle ihm gegenüberstehen und seinem Volke?“

      „Ce cher Édouard!“ rief Graf W. und fügte, sich in den Hüften wiegend, mit süßlichem Lächeln, nur vernehmbar für seine Frau und für den neben ihr stehenden Rosenzweig hinzu: „Er wird immer verrückter.“

      Auch die Schloßdame war unzufrieden mit dem unerwarteten Ausfall ihres Cousins und erklärte sehr scharf, „in einer Schuld der Dankbarkeit und Verehrung fühle sie wenigstens sich dem vortrefflichen Doktor gegenüber nicht.“

      „Und was die Gleichberechtigung aller Konfessionen im Königreiche Polen betrifft,“ sagte Aniela, „so ist sie bereits im Prinzip festgestellt. Mit den Modalitäten wird man sich beschäftigen. Bis jetzt hatte man aber noch nicht Zeit, auf Details einzugehen.“

      „Ich falle Ihnen zu Füßen!“ sprach Rosenzweig. „Um die Sache der Juden ist mir nicht mehr bang.“

      „Ihre Verheißung macht ihn lachen, so groß ist sein Vertrauen –,“ nahm Roswadowski wieder das Wort. „Er, dessen ganzes Leben nur eine Übung im Dienste der Pflicht gegen uns ist, erwartet von uns – nichts.“

      „Herr, wenn ich meine Pflicht nicht täte, käm ich um mein Amt,“ fiel der Doktor ein, im Tone eines Menschen, der einer unangenehmen Erörterung ein

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<p>5</p>

Mein Seelchen.