Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte. Marie von Ebner-Eschenbach

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Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte - Marie von Ebner-Eschenbach

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zuliebe.“ Seine Schuldigkeit hatte er in ihrem ganzen Umfang erfüllt; aber Schuldigkeit – es liegt schon im Worte – ist nur ein Tausch. Mehr als getauscht hatte er nie. Seine Kraft, sein Talent, die Früchte seines rastlos vermehrten Wissens gegen den Wohlstand, den er durch sie erwarb, und gegen die Achtung der Menschen. So hatte er bisher gehalten und – Nathanael warf den Kopf zurück in seinen breiten Nacken – so wollte er es auch ferner halten. Möge erst jeder seinem Beispiel folgen! Möge diese, im Grunde niedere Stufe der Moral erst von der Mehrzahl erreicht sein, dann werden sie zu Worte kommen, die Idealisten, die Träumer von einem goldenen Zeitalter allgemeiner Nächstenliebe. Früher – nicht!

      Jetzt hatte er sich wieder zurechtgefunden und schritt rüstig und sorglos weiter in gewohnter Seelenruhe.

      Lange vor seinem Wagen, von dem trotz allen Ausblickens keine Spur zu entdecken war, erreichte er das steinerne Kreuz. An dessen Fuße kauerte eine klägliche Gestalt. Ein alter Mann, die Knie heraufgezogen bis ans Kinn, eine hohe Schafspelzmütze auf dem Kopfe, um die Schultern die Reste eines blauen Fracks, den vermutlich dereinst in Tagen schlummernden Nationalgefühls der verewigte Gutsherr getragen. Die mageren Beine des Greises wurden von einer ausgefransten Leinwandhose umschlottert und befanden sich, wie sein ganzer kleiner Körper, in einer unaufhörlich zitternden Bewegung.

      Als der Doktor sich ihm näherte und ihn ansprach, erhob er langsam, mühsam das juchtenfarbige, faltige Gesicht und blickte aus halberloschenen, rotumränderten Augen mit dem demütigen Leidensausdrucke eines alten Jagdhundes zu ihm empor.

      „Was tust du hier?“ fragte Rosenzweig.

      „Ich warte, mein gnädiger Herr, ich bete und warte,“ antwortete der Angeredete und streckte seine knöcherne Rechte aus, an deren Fingern ein vielgebrauchter Rosenkranz hing, „ich warte immer auf einen Brief von unserm lieben Herrgott.“

      „Was soll denn unser lieber Herrgott dir schreiben?“

      „Daß ich zu ihm kommen darf, ist ja hohe, hohe Zeit.“

      „Wie alt bist du?“

      „Siebzig, nicht mehr. Aber wie ich aussehe, und wenn Euer Gnaden wüßten, wie mir ist. Da –“ er klopfte auf seine eingefallene, pfeifende Brust – „kein Atem. Jeden Tag meine ich, ich sterbe auf dem Wege, ich erreiche das Kreuz nicht mehr.“

      „Warum bleibst du nicht zu Hause?“

      Der Alte öffnete die Arme mit einer unbeschreiblich hilflosen Gebärde: „Sie jagen mich ja hinaus, die Tochter, der Schwiegersohn, die Kinder. Nun ja – sie haben selbst keinen Platz in der kleinen Schaluppe.“

      „Wem gehört die Schaluppe?“

      „Der Tochter. Ja, der Tochter. Ich habe sie ihr zur Aussteuer geschenkt.“

      „Ein Schürzenvermögen also!“ spöttelte der Doktor. „Und jetzt jagt sie dich aus dem Haus, das du ihr geschenkt hast?“

      „Mein Gott, was soll sie tun? Der Schwiegersohn prügelt sie ohnehin, weil ich so lange lebe. Der Schwiegersohn sagt zu den Kindern: ‚Kinder, betet, daß der Großvater bald stirbt.‘ – Ja!“

      „Du hast da einen saubern Schwiegersohn.“

      „Mein Gott, Herr, die Leute sind schon so. Solche Herren, wie du, wissen nicht, wie die Leute sind. Es gibt noch viel, viel ärgere im Dorf. Besonders jetzt in dieser Zeit.“ Er senkte die keuchende Stimme. „Weh allen Panowies und Panies, die das nächste Jahr erleben!“

      „Warum denn? Was meinst du damit?“

      „O, die armen Herrschaften! Die Armen, Armen!“ wimmerte der Greis und begann bitterlich zu weinen. „Alles wird man ihnen wegnehmen, und erschlagen wird man sie auch.“

      Der Doktor fuhr auf: „Du bist nicht bei Trost!“

      Nun begann der andre die Hände zu ringen!

      „Auch du antwortest mir so? Das ist ein Unglück! Ach, das ist ein Unglück!.. So hat der Herr Pfarrer mir geantwortet, wie ich in der Beichte ausgesagt habe, was ich weiß; so hat der Herr Mandatar mir geantwortet, und der Herr Verwalter hat gar gedroht, mich auf die Bank legen zu lassen, wenn ich solche Sachen rede …“ Er richtete seinen unsicher suchenden Blick auf den Doktor: „Bist auch du mit ihnen einverstanden?“

      „Einverstanden – ich? mit wem?.. Sag alles!“ befahl Rosenzweig. „Was wird ums neue Jahr geschehen?“

      „Männer von jenseits des Meeres werden kommen und werden alle adeligen Besitzungen unter die Bauern verteilen.“

      – Auch die des Pan Theophil Kamatzki. – Wartet, Kanaillen! dachte der Doktor und sprach: „Was wird denn die Regierung dazu sagen?“

      „Die Regierung? Ach! Jesus! Von der Regierung aus ist im vorigen Frühjahr schon alles Land vermessen worden, damit die fremden Männer wissen, wie geteilt werden soll.“

      Rosenzweig brach in ein schallendes Gelächter aus:

      „O! dieses Volk!.. Seit fünfzig Jahren verkehre ich mit diesem Volk, aber die Wege seiner Dummheit habe ich noch nicht erforscht … Alter! die Vermessungen hat der Kaiser vornehmen lassen, weil er wissen will, wie groß sein Galizien ist, und wie viel Steuern es ihm zahlen kann.“

      Ungläubig wackelte der Greis mit dem Kopfe:

      „Das wissen wir besser, verzeih. Der Kaiser nimmt den Herren, die gegen ihn sind, das Land und schenkt es den Bauern, die für ihn sind. Dann wird es gut sein, glauben die meisten … Ich glaube, daß es schlecht sein wird. Jeden Tag wird Sonntag sein, und was tun die Bauern am Sonntag, als raufen und sich betrinken?.. O, mein gnädiger Herr, könnt man's doch verhüten.“

      „Sei du ganz ruhig, das wird gewiß verhütet werden,“ entgegnete Rosenzweig und lachte wieder.

      Da wurde der Alte plötzlich aufgebracht:

      „Wenn du gestern abend im Wirtshaus gewesen wärest und den Kommissär hättest predigen gehört, du würdest nicht lachen.“

      „Den Kommissär? Den Emissär, willst du wohl sagen! Ein Emissär, wie sie jetzt zu Dutzenden herumziehen.“

      „Nein, nein, kein solcher. Einer, der einmal ein Herr war und jetzt sagt, daß es keine Herren mehr geben soll. Er weiß so gut, was für Zeiten kommen werden, daß er lieber gleich von selbst ein Bauer geworden ist und hat alles verschenkt.“

      Diese Worte erweckten Nathanaels ganze Aufmerksamkeit und erhoben es ihm zur Überzeugung, daß der Alte von demselben Manne sprach, den der Kreishauptmann den Sendboten genannt, und vor dem er selbst eben erst Aug in Auge gestanden hatte.

      Derselbe! er war es – er gewiß, der Rätselhafte, dessen Lebensgeschichte die Vernünftigen einander mit Hohn und Spott erzählten, die Furchtsamen mit Haß, die Phantasten mit Begeisterung, es war – Eduard Dembowski.

      Oft hatte er sagen gehört, daß von diesem Menschen ein Zauber ausgehe, dem sich niemand zu entziehen vermöge, und dieser geheimnisvollen Einwirkung den größten Unglauben entgegengebracht, und nun gestand er sich, daß er doch etwas ihr Ähnliches erfahre.

      Ja! der bleiche Schwärmer schritt wie ein Gespenst neben ihm her. Ja! sein Bild verfolgte ihn mit unleidlicher Hartnäckigkeit. Vergeblich suchte er seine Gedanken von ihm abzulenken, immer wieder tauchte es auf und trotzte dem Willen, es zu verscheuchen.

      Das Gefährt des Doktors

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