Arme Leute. Dostoyevsky Fyodor

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Arme Leute - Dostoyevsky Fyodor

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Die Mädchen lachten über mich, neckten mich und lenkten meine Aufmerksamkeit ab, wenn ich die Aufgabe hersagte, oder sie kniffen mich, wenn wir in langer Reihe paarweis zu Tisch gingen, oder sie beklagten sich bei der Lehrerin über mich. Doch welche Seligkeit, wenn dann am Sonnabendabend meine alte gute Wärterin kam, um mich abzuholen! Wie ich sie umarmte – ich wußte mich kaum zu lassen vor Freude – mein gutes Altchen! Und dann kleidete sie mich an, immer »hübsch warm«, wie sie sagte, wenn sie mir die Tücher um den Kopf band. Unterwegs aber konnte sie mir nie schnell genug folgen und ich – konnte doch nicht so langsam gehen wie sie! Und die ganze Zeit erzählte ich und schwatzte ich ohne Unterlaß. Ganz ausgelassen vor Freude, lief ich ins Haus und warf mich den Eltern um den Hals, als hätten wir uns seit neun Jahren nicht gesehen. Und dann begann das Erzählen und Fragen, und ich lachte und lief umher und feierte mit allem und allem Wiedersehen. Papa begann alsbald ernstere Gespräche: über die Lehrer, über Mathematik, über die französische Sprache und die Grammatik von L'Homond, – und alle waren wir so guter Dinge und zufrieden und gesprächig. Auch jetzt noch ist mir die bloße Erinnerung an jene Stunden ein Vergnügen.

      Ich gab mir die größte Mühe, gut zu lernen, um meinen Vater damit zu erfreuen. Ich sah doch, daß er das Letzte für mich ausgab, während ihm selbst die Sorgen über den Kopf wuchsen. Mit jedem Tage wurde er finsterer, unzufriedener, jähzorniger; sein Charakter veränderte sich sehr zu seinem Nachteil. Nichts gelang ihm, alles schlug fehl und die Schulden wuchsen ins Ungeheuerliche.

      Die Mutter fürchtete sich, zu weinen oder auch nur ein Wort der Klage zu sagen, da der Vater sich dann nur noch mehr ärgerte. Sie wurde kränklich und schwächlich und ein böser Husten stellte sich ein. Kam ich aus der Pension, so sah ich nur traurige Gesichter: die Mutter wischte sich heimlich die Tränen aus den Augen und der Vater ärgerte sich. Und dann kamen wieder Vorwürfe und Klagen: er erlebe an mir keine Freude, ich brächte ihm auch keinen Trost, und doch gebe er für mich das Letzte hin, ich aber verstände noch immer nicht, Französisch zu sprechen. Mit einem Wort, ich war an allem schuld; alles Unglück, alle Mißerfolge, alles hatten wir zu verantworten, ich und die arme Mama. Wie war es aber nur möglich, die arme Mama noch mehr zu quälen! Wenn man sie ansah, konnte einem das Herz brechen! Ihre Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen – wie eine Schwindsüchtige sah sie aus.

      Die größten Vorwürfe wurden mir gemacht. Gewöhnlich begann es mit irgendeiner kleinen Nebensächlichkeit und dann kam oft Gott weiß was alles zur Sprache, – oft begriff ich nicht einmal, wovon Papa sprach. Was er da nicht alles vorbrachte!.. Zuerst die französische Sprache, daß ich ein großer Dummkopf und unsere Pensionsvorsteherin eine fahrlässige, dumme Person sei, sie sorge nicht im geringsten für unsere sittliche Entwickelung; dann – daß er noch immer keine Anstellung finden könne und daß die Grammatik von L'Homond nichts tauge, die von Sapolskij sei bedeutend besser; daß man für mich viel Geld verschwendet habe, ohne Sinn und Nutzen, daß ich ein gefühlloses, hartherziges Mädchen sei, – kurz, ich Arme, die ich mir die größte Mühe gab, französische Vokabeln und Gespräche auswendig zu lernen, war an allem schuld und mußte alle Vorwürfe hinnehmen. Aber er tat es ja nicht etwa deshalb, weil er uns nicht liebte: im Gegenteil, er liebte uns über alle Maßen! Es war nun einmal sein Charakter…

      Oder nein: es waren die Sorgen, die Enttäuschungen und Mißerfolge, die seinen ursprünglich guten Charakter so verändert hatten: er wurde mißtrauisch, war oft ganz verbittert und der Verzweiflung nahe, begann seine Gesundheit zu vernachlässigen, erkältete sich und – starb dann auch nach kurzem Krankenlager, so plötzlich, so unerwartet, daß wir es noch tagelang nicht fassen konnten! Wir waren wie betäubt von diesem Schlage. Mama war wie erstarrt, ich fürchtete anfänglich für ihren Verstand. Kaum aber war er gestorben, da kamen schon die Gläubiger in Scharen zu uns. Alles, was wir hatten, gaben wir ihnen hin. Unser Häuschen auf der Petersburger Seite, das Papa ein halbes Jahr nach unserer Ankunft in Petersburg gekauft hatte, mußte gleichfalls verkauft werden. Ich weiß nicht, wie es mit dem Uebrigen wurde, wir blieben jedenfalls ohne Obdach, ohne Geld, schutzlos, mittellos… Mama war krank – es war ein schleichendes Fieber, das nicht weichen wollte – verdienen konnten wir nichts, so waren wir dem Verderben preisgegeben. Ich war erst vierzehn Jahre alt.

      Da besuchte uns zum erstenmal Anna Fedorowna. Sie gibt sich immer für eine Gutsbesitzerin aus und versichert, sie sei mit uns nahe verwandt. Mama aber sagte, sie sei allerdings verwandt mit uns, nur sei diese Verwandtschaft eine sehr weitläufige. Als Papa noch lebte, war sie nie zu uns gekommen. Sie erschien mit Tränen in den Augen und beteuerte, daß sie an unserem Unglück großen Anteil nehme. Sie bemitleidete uns lebhaft, äußerte sich dann aber dahin, daß Papa an unserem ganzen Mißgeschick schuld sei: er habe gar zu hoch hinaus gewollt und gar zu sehr auf seine eigene Kraft gebaut. Ferner äußerte sie als »einzige Verwandte« den Wunsch, uns näher zu treten, und machte den Vorschlag, Gewesenes zu vergessen. Als Mama darauf erwiderte, daß sie nie irgendwelchen Groll gegen sie gehegt habe, weinte sie sogar vor lauter Rührung, führte Mama in die Kirche und bestellte eine Seelenmesse für den »toten Liebling«, wie sie den Entschlafenen plötzlich nannte. Darauf versöhnte sie sich in aller Feierlichkeit mit Mama.

      Dann, nach langen Vorreden und Randbemerkungen und nachdem sie uns in grellen Farben unsere ganze hoffnungslose Lage klargemacht, von unserer Mittel-, Schutz- und Hilflosigkeit gesprochen hatte, forderte sie uns auf, ihr Obdach mit ihr zu teilen, wie sie sich ausdrückte. Mama dankte für ihre Freundlichkeit, konnte sich aber lange nicht entschließen, der Aufforderung Folge zu leisten, doch da uns nichts anderes übrig blieb, so sah sie sich zu guter Letzt gezwungen, Anna Fedorowna mitzuteilen, daß sie ihr Anerbieten dankbar annehmen wolle.

      Wie deutlich erinnere ich mich noch jenes Morgens, an dem wir von der Petersburger Seite nach dem anderen Stadtteil, dem Wassilij Ostroff, übersiedelten! Es war ein klarer, trockener, kalter Herbstmorgen. Mama weinte. Und ich war so traurig: es war mir, als schnüre mir eine unerklärliche Angst die Brust zusammen… Es war eine schwere Zeit…

II

      Anfangs, so lange wir uns noch nicht eingelebt hatten, empfanden wir beide, Mama und ich, eine gewisse Bangigkeit in der Wohnung Anna Fedorownas, wie man sie zu empfinden pflegt, wenn einem etwas nicht ganz geheuer erscheint. Anna Fedorowna lebte in ihrem eigenen Hause an der Sechsten Linie2. Im ganzen Hause waren nur fünf bewohnbare Zimmer. In dreien von ihnen wohnte Anna Fedorowna mit meiner Kusine Ssascha, die als armes Waisenkind von ihr angenommen war und erzogen wurde. Im vierten Zimmer wohnten wir, und im letzten Zimmer, das neben dem unsrigen lag, wohnte ein armer Student, Pokrowskij, der einzige Mieter im Hause.

      Anna Fedorowna lebte sehr gut, viel besser, als man es für möglich gehalten hätte, doch ihre Geldquelle war ebenso rätselhaft wie ihre Beschäftigung. Und dabei hatte sie immer irgend etwas zu tun und lief besorgt umher, und jeden Tag fuhr und ging sie mehrmals aus. Doch wohin sie ging, mit was sie sich draußen beschäftigte und was sie zu tun hatte, das vermochte ich nicht zu erraten. Sie war mit sehr vielen und sehr verschiedenen Leuten bekannt. Ewig kamen welche zu ihr gefahren und immer in Geschäften und nur auf ein paar Minuten. Mama führte mich jedesmal in unser Zimmer, sobald es klingelte. Darüber ärgerte sich Anna Fedorowna sehr und machte meiner Mutter beständig den Vorwurf, daß wir gar zu stolz seien: sie wollte ja nichts sagen, wenn wir irgendeinen Grund, wenn wir wirklich Ursache hätten, stolz zu sein, aber so!.. und stundenlang fuhr sie dann in diesem Tone fort. Damals begriff ich diese Vorwürfe nicht, und ebenso habe ich erst jetzt erfahren, oder richtiger, erraten, weshalb Mama sich anfangs nicht entschließen konnte, Anna Fedorownas Gastfreundschaft anzunehmen.

      Sie ist ein schlechter Mensch, diese Anna Fedorowna. Ewig quälte sie uns. Aber eins ist mir auch jetzt noch ein Rätsel: wozu lud sie uns überhaupt zu sich ein? Anfangs war sie noch ganz freundlich zu uns, dann aber kam bald ihr wahrer Charakter zum Vorschein, als sie sah, daß wir vollständig hilflos und nur auf ihre Gnade angewiesen waren. Später wurde sie zu mir wieder freundlicher, vielleicht zu freundlich: sie sagte mir dann sogar plumpe Schmeicheleien, doch vorher hatte ich ebensoviel auszustehen wie Mama. Ewig machte sie uns Vorwürfe und sprach zu uns von nichts anderem, als von den Wohltaten, die sie uns erwies. Und allen fremden Leuten stellte

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<p>2</p>

Die Hauptstraßen auf Wassilij-Ostroff werden »Linien« genannt. E. K. R.