Der Kunstreiter, 2. Band. Gerstäcker Friedrich
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»Gewiß,« erwiderte dieser. »Die Amsel ist eines von den bescheidenen, anspruchslosen Wesen in der Welt, die trotz ihres eigenen Verdienstes, eben ihrer Zurückhaltung wegen, es doch nirgends zu etwas Ordentlichem bringen und stets zurückgesetzt und übersehen werden. Und wie treu hält sie bei uns in Frost und Kälte aus; wie bescheiden hüpft sie in ihrem anspruchslosen schwarzen Kleidchen einher, und was für eine lieblich grüne Stimme hat sie dabei!«
»Eine grüne Stimme?« fragte Georg, dem dieser Ausdruck neu war.
»Allerdings,« versicherte der alte Mann, »und zwar das ganz bestimmte junge Waldesgrün, wenn ihm der Frühling seinen ersten Saft gegeben – nicht ein Mischmasch von Farben, wie der Finke mit seinem Violett oder der Zeisig gar mit seinem schmutzig gelben Ton – ein reines, schönes, helles Grün, das mit seinem lieben Klange meine alten Ohren auch noch erfreut, wenn der Winter schon lange das wirkliche Grün von den Zweigen gefegt und seine weiße Schneedecke über den Wald gebreitet hat.«
»So beurteilt Ihr den Gesang der Vögel nach den Farben?«
»Gewiß tue ich das,« versicherte der Greis, »und nirgends zeigen sich mir die Farben deutlicher als eben im Gesange. Die Grasmücke singt rot, aber kein brennend schmerzendes Rot wie der Kanarienvogel, sondern sanft und doch leuchtend, wie ich nur einmal in meinem Leben am nördlichen gestirnten Himmel habe Strahlen schießen sehen. Die Nachtigall singt dunkelblau – dunkelblau wie der Nachthimmel selber, daß man die beiden kaum voneinander unterscheiden kann. Die Lerche singt jenes wundervolle Korngelb der reifen Aehren, das Rotschwänzchen ein allerliebstes bläuliches Grau, die Schwalbe weiß, der Nußhäer, der spöttische Gesell, ein tiefes Schwarz, ich mag den geschwätzigen hirnlosen Burschen auch deshalb nicht besonders leiden; die Drossel singt dunkelgrün, und fast alle Farben finden sich unter den Sängern des Waldes, alle, mit ihren leisesten Schattierungen – nur nicht hellblau. Kein Vogel, und das ist etwas, worüber ich schon oft und lange nachgedacht, singt hellblau, und nur ein einziges Mal, und zwar eine einzige Nacht, habe ich eine Nachtigall gehört, die hellblau sang, und das war das schönste Himmelblau, das man sich nur denken kann.«
»Und nie wieder hat sie gerade so gesungen?« fragte Georg, den, er wußte selber nicht weshalb, ein eigenes Gefühl der Teilnahme für den Greis beschlich.
»Nie wieder,« sagte der alte Mann leise, »es war ihr Sterbelied gewesen, denn am nächsten Morgen fand ich sie tot in demselben Busche – tot und unverletzt, und habe sie auch dort, wo ich sie fand, nachher begraben. Ich werde den Tag nie vergessen; es war derselbe Morgen, an dem die Kinder wieder von hier abreisten, und wie ich da drüben unter dem Busche bei dem toten Vogel saß, liefen mir die hellen Tränen die Backen herunter. Ich weiß aber wahrhaftig nicht, ob ich über den Vogel oder über die Kinder geweint habe, die ich – wenigstens beide zusammen – nicht wiedersehen sollte.«
Der alte Mann schwieg und sah still und traurig vor sich nieder, und auch Georg wagte im ersten Augenblick nicht die Stille zu unterbrechen. Von welchen Kindern sprach der Greis, und war es nicht etwa gar die eigene Jugend, die an das Herz dieses alten, starren Waldbewohners geklopft und die Erinnerung darin zurückgelassen hatte? – Er mußte darüber Gewißheit haben.
»Was für Kinder, Forstwart?« fragte er mit so viel Gleichgültigkeit als möglich im Tone.
»Das eine kennen Sie, gnädiger Herr,« sagte da der alte Mann, »es ist unser gnädigster Herr Graf, den Gott uns noch recht lange erhalten möge. Wie hübsch und schlank und kräftig der emporgewachsen ist, und wie viel Freude er schon seiner braven Frau Mutter gemacht hat, daß sie wohl stolz auf ihn sein darf!«
»Und das andere?« fragte Georg nach sichtlichem Widerstreben, als der alte Mann hartnäckig schwieg, »was ist aus dem andern geworden?«
»Da fragen Sie den lieben Herrgott!« seufzte der alte Mann, »der andere Knabe war sein Bruder. Auf ein Haar fast glichen sich die beiden jungen Herren, und so wild und lebenslustig waren sie, und so gut, so engelgut dabei! Der jüngste besonders war ein herzig Kind – ich sehe ihn noch vor mir mit den langen dunklen Locken und den großen, sterngleichen Augen – und ich durfte mit ihnen durch den Wald gehen und ihnen das Wild zeigen und die Stellen, wo die saftigsten Erdbeeren wuchsen, und der kleinste faßte mich dann an der Hand und fragte mich, wie hoch der Himmel noch über den hohen Bäumen sei, und ob es wahr wäre, daß die Sterne dort droben die Augen von lieben Engelchen wären, die herabschauten auf die Kinder, ob sie auch brav und gut wären und ihren Eltern Freude machten? Und dann erzählte er mir von seinem Vater, daß er gestorben und zum lieben Gott gegangen sei und sie, die beiden Knaben, mit der Mutter hier allein zurückgelassen habe, und – Gottes Zorn!« murmelte der alte Mann vor sich hin und wandte sich ab von Georg, denn er schämte sich vor dem Fremden, daß ihm, selbst in der Erinnerung an jene Zeit, die sein Herz mit einer eigenen Wehmut erfüllte, die Tränen ins Auge gekommen waren. Georg aber, der ihn mit schmerzlicher Spannung beobachtete, war das nicht entgangen, wenn er auch tat, als ob er es nicht bemerkte; hatte er doch Mühe genug, die eigene Rührung niederzukämpfen. Endlich, sich gewaltsam zwingend, sagte er leise: »Und von dem andern Knaben habt Ihr nie wieder – den andern Knaben habt Ihr nie wieder gesehen?«
»Nein,« erwiderte der Alte, »damals blieben sie acht Wochen bei uns, und kein Tag verging, wo wir uns nicht zusammen hier draußen herumgetummelt hätten. Ein paar wilde Burschen waren es alle beide, und tolle Streiche haben wir mitsammen ausgeführt. Der jüngste besonders – der kleine Tollkopf konnte mit mir machen, was er wollte – schien sein Herz an mich gehängt zu haben. Auf mir geritten ist er sogar, oft und oft, und hat mir dann versprochen, wenn er einmal groß wäre, wollte er mich zu seinem Stallmeister, und Gott weiß was sonst noch machen. Dann gingen sie fort, und ich blieb hier zurück – als Forstwart, Waldläufer oder was Sie wollen. Ein paarmal noch ließen mich die Knaben, besonders der kleine Georg – er hieß wie Sie, gnädiger Herr, Georg – grüßen, dann war auch das vorbei. Ich selber vergaß die Kinder wohl nicht, denn wenn man so ganz allein steht auf der Welt, vergißt man nicht so leicht etwas, an dem das Herz einmal so gehangen, wie ich an den Kindern, besonders an dem jungen Herrn. Während aus den Knaben aber Männer wurden, hörte ich endlich, daß der eine – mein armer kleiner Georg – Deutschland ganz verlassen habe und – in der Fremde gestorben sei, und da konnte ich denn natürlich nichts weiter tun, als – um ihn trauern.«
»Und habt Ihr seinen Bruder nie nach ihm gefragt?« sagte endlich nach langer Pause, während die beiden Männer schweigend nebeneinander hingeschritten waren, Georg.
Der Alte schüttelte mit dem Kopfe. »Das ging nicht gut,« meinte er, »sollte ich die Wunde im Bruderherzen wieder aufreißen? Und ich war froh und glücklich, daß ich wenigstens den einen wieder hatte und mir in dessen heiteren, männlich schönen Zügen das Bild des andern heraufrufen und festhalten konnte. Die Jahre sind auch darüber hingegangen, und wie der Hügel auf dem Grabe des längst Entschlafenen eingesunken sein wird, sind meine Wangen eingefallen, ist mein Haar gebleicht, und ich dachte kaum, daß ich noch einmal so lebhaft wieder an ihn denken würde, bis – bis Sie neulich, gnädiger Herr, mit unserem gnädigen Grafen in den Hof einritten.«
»Ich?« rief Georg und suchte die Bewegung zu verbergen, die seine Stimme zittern machte.
»Ja,« sagte der Greis, und unwillkürlich suchte sein Blick dabei den des Begleiters, »wie ich Sie beide zusammen und nebeneinander, in all der Kraft männlicher Schönheit, beide einander so ähnlich, und doch auch wieder so verschieden, auf einmal vor mir sah, war es plötzlich, als ob eine Stimme in meinem Innern spräche: da sind sie – die Zeit ist wiedergekommen, die du so heiß ersehnt; er ist nicht tot, der kleine Georg, sondern zurückgekehrt, wie er es mir als Kind, seine kleine Hand in der meinen, fest versprochen. – Ich hatte mich doch geirrt; und nur daß Sie Georg heißen, ist ein merkwürdiger Zufall. Fünfundzwanzig Jahre sind freilich eine lange