Melusine: Ein Liebesroman. Jakob Wassermann

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Melusine: Ein Liebesroman - Jakob Wassermann

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style="font-size:15px;">      Kurze Zeit darauf kleidete sie sich an und ging fort. Bald überfiel sie die Müdigkeit, und ihr Gesicht hatte einen klagenden und bekümmerten Ausdruck. Das leuchtende Blaß ihrer Haut unter dem schwarzen Schleier hatte etwas Krankhaftes, und auch ihr lässiger Gang hatte gleichsam dies Klagende, Zielunbewußte. Sie fühlte Hunger und suchte ein vornehmes Restaurant im Innern der Stadt auf. Aber als das Essen vor ihr stand, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte, denn sie brachte keinen Bissen hinunter. Sie bemerkte mit Schrecken, daß sie fieberte; es fror sie. Rasch zahlte sie und ging, von zahlreichen, bewundernden Männerblicken verfolgt.

      Sie betrat ein Waffengeschäft und kaufte einen sechsläufigen Revolver für fünfzehn Mark. Sie ließ sich den Mechanismus erläutern, und dann bestieg sie eine Droschke. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen war mit Schneeflocken vermischt. Sie hatte Kopfschmerz, und ihre Zähne klapperten. „Ich habe nichts mehr zu leben,“ sagte sie sich, während sie wie erstarrt im Wagen lehnte und die Beine ausstreckte. „Was soll ich noch leben, das hat ja gar keinen Wert.“

      Sie stand in ihrem Zimmer, ohne daß sie wußte, wie sie heraufgekommen war. Sie erinnerte sich nicht, den Kutscher bezahlt zu haben. Lange Zeit hindurch – länger als eine Viertelstunde blickte sie in den Spiegel. Da lächelte sie bisweilen hochmütig, aber sie erschien sich fremd. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr das denken, was sie denken wollte. Sie dachte nicht an den Tod, den sie doch suchte, und den sie doch mehr als jeder andere Mensch fürchtete, sondern sie dachte: das Roastbeef, das ich mir da im Restaurant geben ließ, sah sehr schön aus. Schade, daß ich es nicht gegessen habe. Oder: mein Schleier hat ein großes Loch; man kann nicht mehr damit ausgehen. Oder sie hatte den Wunsch, ein Erdbeben möchte eintreten und das Haus, die Stadt möchten zerstört werden, nur damit dies langsam Erdrückende ihrer Lage ein Ende habe.

      Es war dunkel geworden. Sie zündete die Kerze an. Der Regen klatschte an die Scheiben. Im Korridor machte Dele mit einer Spielgenossin großen Lärm. Die Hausfrau hantirte in der Küche. Alles war verstimmend, freudlos, hoffnungslos für die Sinne Melys. Sie glaubte jetzt ganz ruhig zu sein, und sie sagte sich das auch. Ja, sie sagte es leise vor sich hin und verwunderte sich noch im Stillen darüber. Bald aber schlug ihr das Herz wie ein Hammer so kräftig, es schlug zum Zerspringen. Sie wollte die Thür verriegeln, doch fand sie, daß sie es schon vorhin gethan hatte. Sie lachte einmal laut auf, ohne zu wissen weshalb. So eine Dunkelheit herrschte in ihren Gedanken.

      Plötzlich nahm sie die Schußwaffe in die Hand und sagte dabei laut: „Es ist ja ein Unsinn, aber ich thu’s doch.“ Ihr Arm zitterte heftig; eigentlich war es kein Zittern, sondern ein Auf- und Niederfahren, genau im Takt der Herzschläge. Sie war wie besinnungslos. „Das Licht sollte ich auslöschen,“ flüsterte sie. „Aber nein, nein, nein,“ entschied sie dann trotzig, „es mag brennen bleiben.“ Und sie nickte der Flamme flüchtig zu.

      Sie spannte den Hahn und drückte. Es knackte wohl, aber der Schuß ging nicht los. Sie wartete einige Sekunden. Sie war verstört, einer Ohnmacht nahe. Sie probirte am Schloß der Waffe, aber ihre Bemühungen waren erfolglos.

      Sie setzte sich aufs Sofa. Die Füße waren bleischwer. Die alte Unruhe und die alte Angst kamen wieder. „Nun, ich werde morgen zu dem Verkäufer gehen und den Revolver untersuchen lassen,“ beschloß sie achselzuckend. Sie wußte genau, daß sie diesen Vorsatz nicht ausführen würde.

      Man klopfte an die Thür. Die Magd bat zum Abendessen. Mely, froh, daß ihr Alleinsein ein Ende habe, kleidete sich rasch um, verlöschte die Kerze und ging hinaus.

      Als sie das Eßzimmer betrat, sah sie einen jungen Mann am Tisch sitzen. Frau Bender stellte vor: „Herr Falk – Fräulein Mirbeth.“

      VI

      „Herr Falk hat sich entschlossen, bei uns zu essen,“ erklärte Frau Bender. „Er will seine Einsamkeit endlich ein bischen verlassen.“

      Mely antwortete mit einer höflichen Grimasse. Sie betrachtete ihren grauen Schlafrock und ärgerte sich, daß sie nicht eleganter erschienen war. „Wo ist denn Fräulein von Erdmann heute?“ fragte sie.

      „Herr Doktor Brosam besucht mit ihr das Theater,“ erwiderte Frau Bender lachend. „So zum Abschied, wissen Sie. Ach, sie liebt ihn doch so,“ flötete sie mit komischer Innigkeit.

      „Ja, denken Sie, und nicht einmal ein Liebesdrama wird aufgeführt,“ sagte die boshafte Helene.

      „Wir bekommen jetzt eine noch ältere Dame, ein Fräulein von Mahnke,“ erzählte die Hausfrau. „Auch eine Gelehrte oder so was Ähnliches.“

      „Hoffentlich nur was Ähnliches, denn etwas Schlimmeres gibt es nicht,“ bemerkte Falk. Er hatte bis jetzt seine junge Nachbarin noch nicht betrachtet. Nun sah er sie an, wandte aber sofort den Blick wieder ab.

      „Wie werden Sie da erst über mich urteilen!“ sagte Mely.

      „Warum?“

      „Fräulein Mirbeth malt,“ erläuterte Helene, das letzte Wort ironisch betonend.

      „Ach, eigentlich nur ein wenig. Ich lerne ja noch,“ setzte Mely hinzu. „Ich habe nicht viel Talent und nicht viel Lust. Aber ich muß,“ fügte sie rasch bei, als sie den erstaunten Blick des jungen Mannes bemerkte. „Ich muß,“ wiederholte sie schüchtern. „Man muß doch etwas sein.“

      „So–o! – Was malen Sie? Porträt?“

      „Landschaft – nur Landschaft,“ sagte sie mit blitzenden Augen, denn der geringschätzige Ton seiner Stimme reizte sie. „Sie wollen wohl auch, daß die Frauen stumpfsinnig bei der Kocherei und bei der Näherei bleiben?“ fragte sie, schon erschreckend über ihre Kühnheit.

      „Nein, nein,“ entgegnete Falk stirnrunzelnd. „Sie müssen schon verzeihen“ – er errötete und machte eine linkische Geste – „aber ich meine, wen es dazu treibt, der soll’s treiben. Das ist ja selbstverständlich. Ich spreche ungern darüber, weil man immer dieselben Dinge sagen muß. Gewiß, die Frau soll nicht beschränkt sein in dem, was sie thut, aber auf zehn talentvolle Männer wird doch höchstens eine talentvolle Frau kommen, die es auch um der Sache willen thut. Bei den meisten Frauen ist die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst nichts als eine verfehlte Heirat. Aber das ist ja alles so oft gesagt worden und so selbstverständlich.“

      „Ja, Sie haben recht,“ pflichtete Mely bei. Sie sah Vidl Falk ein wenig träumerisch an, ohne sich dessen bewußt zu werden. Durch ein verstecktes Lächeln, das um seine Lippen spielte, erwachte sie gleichsam, und errötend pickte sie mit den Fingern die Brotkrumen vom Tischtuch.

      Das Mahl ging unter gleichgültigen Gesprächen zu Ende.

      „Sie sehen sehr abgespannt aus, Fräulein,“ sagte Falk beim Thee zu Mely. „Als ob Sie eine große Fußreise gemacht hätten.“

      „Ja, ich habe Kopfweh,“ entgegnete sie rasch mit gesenkten Lidern. Seltsam, aufs neue, aufs quälendste erwachte gerade in diesem Augenblick die Reue in ihr. Die Worte Falks erwärmten sie. So vergessen von aller Welt erschien sie sich, daß diese in fast besorgtem Ton gemachte Bemerkung, die doch möglicherweise eine bloße Redensart sein konnte, ihr wie eine Liebkosung erschien. Sie preßte die Hand an die Stirn, wie um zu beweisen, daß sie große Schmerzen habe.

      Frau Bender hatte um Entschuldigung gebeten. Sie lag auf dem Divan und war dort eingeschlafen. Helene, in der altjüngferlichen Haltung, die ihr oft eigen war, saß im Stuhl zurückgelehnt und hörte zu, bald Beifall lächelnd, bald grundlos errötend. Eine Riesenrose aus Kreppstoff hing über dem Milchglassturz der Hängelampe und hüllte die eine Hälfte des Raumes in Dunkelheit. Der Divan mit der schlafenden Frau Bender, das Pianino,

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