Die beiden Freunde. Hendrik Conscience
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»Merken Sie wohl auf,« sagte Christians; »ich werde keinem Menschen selbst meiner Frau nicht ein einziges Wort von unserer gegenwärtigen Begegnung sagen, und Sie versprechen mir dafür, daß Sie bis morgen Mittag nichts gegen sich selbst oder gegen einen Andern unternehmen wollen. Sind sie damit einverstanden?«
»Bis morgen Mittag?« versetzte der Andre überlegend. »Morgen ist der letzte Tag . . . «
»Nun denn, ja oder nein: wollen Sie mir dass Versprechen geben?«
»Es sei, Herr Doktor; ich will leben bis morgen Mittag. – Und welches ist der Dienst, den ich Ihnen leisten kann?«
»Ich fordre sonst nichts von Ihnen; morgen früh aber, gegen sechs Uhr, werde ich Sie in meiner Wohnung erwarten, um von Ihnen zu erfahren, wer Sie sind und wie Ihnen zu helfen ist, Sie werden doch kommen?«
»Nein, Herr Doktor das werde ich nicht, mein Schicksal wird sich erfüllen, es ist nicht abzuwenden.«
»Das wird sich finden. Ich erwarte Sie mit aller Bestimmtheit, Sie beruhigen sich und werden vernünftig. Bis morgen also bis morgen.
»Leben Sie wohl auf ewig,« murmelte der junge Mann mit thränenerstickter Stimme.
»Vergessen Sie nicht, daß Ihr Erscheinen den Lebensretter Ihrer Mutter beglücken wird,« rief Christians ihm nach.
Dann entfernten sich Beide nach entgegengesetzten Richtungen.
III
Am folgenden Morgen stand der Doktor früher als gewöhnlich auf, nach einer unruhig verbrachten Nacht, verursacht durch das Erlebnis; des vergangenen Abends.
Er zerbrach sich den Kopf darüber, welche Frau, arm oder reich, er von einem mehr oder minder sicheren Tode errettet haben möge, um einen Zusammenhang zwischen ihr und seinem Angreifer zu finden, doch hatte er in seiner langen Laufbahn so Viele geheilt, so Vielen geholfen, daß diese Untersuchung gänzlich fruchtlos blieb.
Jetzt saß er nun in seinem Kabinet, den Kopf auf die Hand gestützt und richtete an sich selbst die Frage ob der, welcher das Messer in der Hand bereit gestanden hatte, ihn zu ermorden, wohl wagen möchte, vor ihm zu erscheinen. Würde er kommen zu der bestimmten Stunde?
Der Wahrscheinlichkeit nach zu urtheilen mußte diese Frage verneint werden, denn wenn die Furcht den strafbaren Jüngling hinderte, den Doktor zur Nachtzeit zu begleiten, wie sollte er da den hellen Tag nicht scheuen?«
Diese Erwägung betrübte den Menschenfreund; war doch die Neugierde, zu wissen, wer ihn angefallen habe, nur eine untergeordnete Regung, und die Ueberzeugung vorherrschend, daß der junge Mann das Opfer unglücklicher Verhältnisse und mit einigem Beistand und gutem Ruh aus der Bahn des Verbrechens in die der Tugend hinüber zu leiten sei. Der gute Doktor freute sich jedesmal, wenn er einem Kranken die Gesundheit des Körpers wiedergeben konnte; wie unendlich glücklicher würde er sich schätzen wenn es ihm vergönnt sein sollte, eine arme Seele vom ewigen Verderben zu befreien.
Über diesen Gedanken hatte er wohl vergessen, das die bestimmte Stunde herannahte. Das Schlagen der Hausuhr erinnerte ihn daran.
»Sechs Uhr!« murmelte er vor sich hin; »nein er kommt nicht.«
Christians stand auf und trat an das Fenster seinen Kopf an eine der Laden legend, wodurch er im Stande war, die Straße zu übersehen ohne selbst gesehn zu werden.
Hier ließ er seine Augen die Straße hinauf und hinunter schweifen und musterte die vorüber gingen oder auf sein Haus zuzukommen schienen, doch gewahrte er nur Bauern, die Gemüse und Milch zur Stadt brachten, und Tagelöhner, die sich an ihre Arbeit begaben.
»Schon lange war es sechs Uhr vorbei; jetzt kommt er nicht mehr, sagte er endlich verdrießlich und wollte schon vom Fenster fortgehn, doch da bemerkte er noch ziemlich weit entfernt einen jungen Mann, bei dessen Anblick ein Ausruf der Ueberraschung ihm entfuhr.
»Wahrhaftig, das könnte er sein!« flüsterte er erregt.
Der Betreffende trug Kleider, die früher anständig, vielleicht sogar elegant gewesen, jetzt aber mit grauen Flecken bedeckt waren und so viele Falten zeigten, als wenn er die Nacht hindurch im feuchten Grase gelegen hätte. Sein Gesicht konnte er anfangs nicht sehn, denn er senkte den Kopf tief auf die Brust und schlich nah an den Häusern hin.
Als er sich indessen der Wohnung des Doktors näherte, blickte er auf und gab dem am Fenster Spähenden dadurch Gelegenheit seine Züge zu unterscheiden.
Dieser begann wieder zu zweifeln. Der junge Mann war zwar ausfallend bleich und in seinen Augen lag ein tiefer Schmerz, doch war der ganzen Erscheinung etwas so Edles ausgeprägt, daß jeder Verdacht eines Verbrechens fast zur Unmöglichkeit wurde.
Ja, die erste Vermuthung des Doktors mußte unbegründet sein, denn nachdem er einen Blick auf das Hans geworfen hatte, beschleunigte er seine Schritte und ging vorüber.
Christians gab jetzt alle Hoffnung auf und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er zog sein Notizbuch hervor und begann die Besuche zu ordnen die er im Laufe des Tages zu machen hatte. Hin und wieder unterbrach er wohl diese Beschäftigung um an seinen seltsamen Angreifer zu denken, doch war er fest überzeugt, daß er ihn nie im Leben wiedersehn würde, da die festgesetzte Stunde längst vorüber war.
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