Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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»Schweigen? Ich hab elf Jahre lang geschwiegen. Ich gebe mein Herzblut für euch hin, sagst du immer. Aber ich, ich für meinen Teil finde gar nichts Besonderes in dem, was du thust. Erstens sitzest du jeden Abend im Wirtshaus und spielst und bist vergnügt und ich bin dir gleichgültig. Es ist dir gleichgültig, was ich treibe. Wir waren eine gute Partie, nun ja, das ist eigentlich alles. Du hast nie gewußt, was eine Frau ist und was sie sonst noch für Sehnsucht haben könnte außer ihrem Wochengeld und ... Ich darf zu Grunde gehen in Langeweile und Einsamkeit, du hast ja deine Gesellschaft beim Kartenspiel, und die ist dir lieber als Frau und Kinder .... nein, nein, denke nur nicht, daß ich was von dir begehre. Ich habe nie was gewollt, aber was du jetzt von mir willst, o ich durchschaue dich. Dich kenn ich!«
Noch viele Worte hörte Peter, aber es waren nur Worte für ihn. Langsam kleidete er sich aus und kroch ins Bett. Seine Bewegungen waren alle schwer, fast getragen vom Nachdenken. Ja, er kam sich so feierlich vor, so viel würdevoller als sonst und viel männlicher. Und er glaubte alles zu verstehen, was er gehört hatte. Zum erstenmal schaute er in das Leben, das vor ihm lag, hinein wie in ein dunkles Loch. Ein leichter Schreck ergriff seine Seele, und er fühlte etwas wie Schwäche gegenüber den künftigen Tagen. Diese Welt erschien ihm vollgepfropft mit unheimlichen Schicksalen und häßlichen Leiden. Sein Geist flüchtete ängstlich in die alten Zeiten der Sagen und der Heldenthaten und das Übernatürliche und Traumhafte war ihm das allein Begreifliche und Berechtigte. Und er schloß die Augen und Bild auf Bild, blaß und blasser schwebte ihm vorbei, und Märchen und Wunder erfüllten sein Herz und seine Träume waren leicht und golden.
IV.
Ganz ohne Übergang, ganz plötzlich und stürmisch waren Ende April diese warmen Tage gekommen. In allen Gassen roch es nach Frühling und die jungen Blüten wiegten sich bedächtig hin und her und wußten ihr junges Leben noch nicht so recht zu genießen. Der Frühling hat uns überfallen, sagte Frau Agnes Vogelsang und sie lächelte dabei so, als ob von einem guten Freunde gesprochen würde.
Peter, der seit drei Tagen Ferien hatte, fühlte sich froh im Bewußtsein der freien Herrschaft über all die Stunden des Tages. Des Morgens saß er still im Zimmer und las. Er vertiefte sich in die Historien des alten babylonischen Reiches. Ja, diese asiatischen Völker in all ihrem satten Prunk, mit dem Geheimnisvollen und Düstern, das sie umgiebt, lockten ihn sehr. Wenn er die seltsame Geschichte des Sardanapal las, so ergriff ihn jedesmal eine fast dichterische Glut, und er sah die Feuer an den Wänden des Palastes lodern, und er hörte die schmerzlichen Schreie der Frauen, und er sah den König selbst, wie er inmitten seiner Getreuen stand und die Lanze gepackt hielt wie ein echter Held und wie er bleich wurde und wie dann die Flammen kamen und wie der Rauch kam und wie er lächelte und immer lächelte, wenn die andern sich vor Schmerz wanden. So sah er den Sardanapal. Und er erzählte das alles Haushammers Fritz, und sie unternahmen Heldenthaten von ähnlicher Bedeutung, zogen mit Holzschwertern in den Wald hinaus und suchten einsame Burgen und stille Höhlen und wilde Tiere und die Fußstapfen böswilliger Feinde. Und er träumte des Nachts von seltsamen Ländern, wo Blumen waren so groß wie bei uns die Bäume und wo ein ewiger Sonnenbrand herrscht oder eine ewige Dämmerung oder der süße Frieden des Waldes und wo die Menschen gute Augen haben und wo fromme und starke Könige die schönsten Knaben als Pagen in ihren Palast rufen lassen. So ging sein Tag in Träumen hin, und sein Auge suchte in dieser Welt der Zahlen nach Wundern. Und er las auch die Bibel (heimlich las er sie), und ein kühler Schreck erfaßte sein empfindliches Herz vor jenen blutigen Greueln und vor jenen übermenschlichen Gestalten der grauen Vorzeit. Und erst des Abends, wenn er oft mit Barbara am Herdfeuer der Küche saß, wenn die Sphinxe und die Nixen und die Nymphen sich erhoben aus düsteren Verstecken, wenn der Wald in seiner süßen und ziehenden Dunkelheit wie ein lebendiger Mensch erschien, wenn die flackernden Flammen des Herdfeuers als kleine, boshafte Kobolde ein spukhaftes Wesen trieben, wenn Drachen und Lindwürmer mit feurigen Glotzaugen vor dem Sims saßen und durch die Scheiben starrten, wenn jeder Kochtopf sich als ein Zauberwerkzeug und jeder Schemel sich als feige schleichendes Tier entpuppte, dann war das Leben eitel Abenteuer und Furchtbarkeit für Peter und es lockte und rief ihn hinaus auf Haide und Moor und Wald und Thal mit tausend wohlverständlichen Stimmen.
Frau Agnes liebte das alles nicht. Sie liebte die Träumereien nicht und sie liebte die Märchenbücher nicht für den Knaben. In dem melancholischen Ausdruck seiner Augen lagen ohnehin schmerzliche Garantieen die Fülle für sie. Sie wußte, daß er nur mit älteren Knaben verkehrte und daß er gegen jüngere einen gewissen Hochmut zur Schau trug oder eine fast väterliche Nachsicht. Es war ihr ja kein Rätsel, wie dies Düstre, gleichsam Schwerflüssige in das Kind gekommen war. Ihr selbst hatte das Leben nie viel Munterkeit und Glück gegeben, und trüb und finster und plump war diese Stadt. Streng und ernst und geradlinig war das Land. Wenn man draußen stand auf dem Feld und man sah die bleiernen Wolken des Himmels über sich, so mußte man träumen. Man verlor die Energie des Gedankens und mußte träumen. Das Haus da war nicht alt, sonst hätte gewiß nicht jene heimliche Poesie der alten fränkischen Häuser gefehlt, nein, es war so neu und kahl wie die Fabrikschlöte, die gegen den Anger hinaus lagen. Und viel Werkthätigkeit und Hastigkeit war in allen Straßen der Nähe und spielende, schlecht gekleidete Kinder schrieen und lärmten in allen Höfen.
Doch den Zimmern der Etage hatte Frau Agnes die Züge ihres Wesens aufgedrückt, und jene unauffällige, wohlthuende Harmonie lag darüber, von der Tante Regina meinte, daß man dabei an seine Kindheit denken müsse. Wie fremd und geheiligt erschien Peter stets der halbdunkle Salon mit seinen grünlichen Lichtern, mit dem scheuen Glanz seiner hohen Spiegel! Und wenn seine Mutter mit ihrem ein wenig schleppenden Gang durch die Flucht der Räume schritt und nachdenklich hier eine Decke glättete und dort den Staub von einer Platte wischte, so fühlte selbst der Knabe, wie vieler Enttäuschungen es bedurft hatte, um all ihre Wünsche auf dies winzige Königreich zu beschränken, und ein schmerzlich unbewußtes Begreifenwollen regte sich in ihm.
Heut soll Lizzi kommen, dachte Peter, der am Ofen saß, den Kopf in die Hand und den Ellbogen auf das Knie gestützt. Und er dachte darüber nach, welch ein ernstes und gemessenes Gesicht er machen wollte, wenn er ihr die Hand gab; er wollte sich verbeugen und wollte sagen: Ach, das ist schön, daß du gekommen bist. Nach dem Ach wollte er eine kleine Pause machen.
Von der Küche drangen Bratengerüche herein, und überdies roch es nach Kastaniengemüse. Peter lächelte begehrlich und dann runzelte er die Stirn, in Sorge, daß die Mutter zu wenig davon kochen würde wie neulich. Diese Sorge beunruhigte ihn so sehr, daß er beschloß, in die Küche zu gehen.
Aber als er den Fuß über die Schwelle der Küchenthür setzte, blieb er erschrocken stehen. Frau Agnes saß auf dem Kehrichtfaß, in der einen Hand den langen, hölzernen Kochlöffel, mit dem sie das Mus gerührt hatte, in der andern einen Brief. Sie sah über den Knaben hinweg, geradeaus ins Leere. Ihr Gesicht war fahl und ihre Lippen waren blau. Peter wagte nicht, sich zu rühren, während er lange Zeit mit zuckenden Mundwinkeln dastand und zuschaute, wie langsam stille Thränen über die Wangen seiner Mutter rannen und wie ihr Oberkörper sich vorbeugte und auf das Anricht zu fallen schien. Und dann erhob sie sich rasch und sie schämte sich, vor dem Kind so schwach gewesen zu sein; daher drückte sie das Taschentuch fest gegen die Augen, als sie hinausging.
Peter sann und sann. Doch inmitten der Erregung sah er das Kastaniengemüse schmoren und brodeln und damit das leckere Gericht nicht zu Grunde gehe, nahm er zaghaft den großen Löffel und rührte und rührte, während seine schwärmerischen Blicke gleichsam die Finsternis des Lebens zu durchdringen suchten und ein großes Mitleiden ihn erfaßte gegen ein Unbestimmtes, gegen ein leidendes und trauriges Geschöpf. Doch in seine männlichen Entschlüsse und altklugen Betrachtungen fuhr die fette Stimme der alten Barbara, die ihm den Löffel aus der Hand riß und mit entrüsteten Naturlauten den unbequemen Koch vor die Thüre setzte.
Aber