Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann страница 8
Er sprang aus dem Bett und eilte in das Zimmer der Mutter. Im Wohnzimmer war es finster und ihm schien, als klänge vom Sofa her ein Stöhnen. Er blieb stehen und betastete sich und knöpfte das Hemdchen, das über der Brust offen stand, wieder zu. Denn es fror ihn, barfüßig und im Hemd, wie er war.
Im Krankenzimmer brannte Licht. Aber die Lampe war so tief heruntergeschraubt, daß von der Schwelle aus kaum noch die Gardinen sichtbar waren. Dem Knaben erschien alles anders, gleichsam starrer, lebloser. Er wußte nicht, wie weit die Nacht vorgerückt war, und ihm graute auf einmal vor dieser Einsamkeit und vor der Stille. Wo war Tante Regina? Wo war Barbara? Indem er ins Wohnzimmer zurückschaute, sah er sich selbst im Spiegel, nur einen weißen Fleck, düster und gespensterhaft.
Dort lag die Mutter. Sie rührte sich nicht. Er flüsterte: »Mutter!« Aber sie blieb trotzdem unbeweglich. Er ging näher heran. Kaum konnte er sich aufrecht erhalten, so sehr hatte ihn eine unbestimmte Furcht ergriffen, eine Furcht, die ihm heiß machte, die sein Herz beschwerte, die ihn daran denken ließ, ob es nicht gut wäre, niederzuknieen und zu beten. Er hatte sehr große Lust zu weinen, aber es umwehte ihn wie ein Schauer unsichtbarer Fittiche, so daß er mit weit aufgerissenen Augen vergeblich der Thränen harrte ... Da stand er nun am Bett. Die Aprikosen lagen noch auf dem Tischchen. Wie leicht hätte er nun eine nehmen können und niemand würde was merken. Und die Arzneiflaschen standen da, rot beklebt.
Die Mutter war bleicher, als er je an einem Menschen gesehen. Er sah sie gar nicht atmen, und er fragte sich neugierig, wie es komme, daß sie so unnatürlich starr dalag, mit dieser wächsernen Farbe des Angesichts. Die Augenlider waren ja nicht einmal völlig geschlossen; das Dunkel des Augapfels schimmerte durch die Wimpern, so, als wäre sie über irgend einen Gegenstand in sehr tiefe Gedanken gefallen, so daß sie alles um sich her vergessen mußte. Aufgelöst waren die Haare und sie flossen hinab über den Bettrand .... Jetzt hörte er ganz deutlich, daß Jemand im Wohnzimmer draußen stöhnte! Das mußte wohl Tante Regina sein. Aber weshalb sollte sie wohl weinen? Sie war doch schon so alt. So alte Leute weinen doch nicht mehr.
Peter berührte die Hand der Mutter und erschrak. Wie kalt fühlte sich das Fleisch an! So kalt wie ein Stein. Er beugte sich zu ihr. Er näherte die Lippen ihrem Ohr und fragte: »Schläfst du Mutter?«
ENDE
Die Schaffnerin
I.
In der Nähe einer unterfränkischen Stadt lag ein hübsches Gut, das dem Generalleutnant von Bruneck gehörte. Der Besitzer selbst wohnte niemals dort, kam höchstens zwei- oder dreimal jährlich zur Inspektion, wobei die Zeit seines Aufenthaltes so kurz war, daß der Bursche, der sein Pferd hielt, während dieses Wartens durchaus nicht ermüdete. Es ging die Rede, daß traurige Familien-Erinnerungen den Herrn von Bruneck an einen längeren Aufenthalt auf seinem Gut nicht denken ließen.
Seit zwei Jahren verwaltete das Besitztum der »Amtmann« Bödensaß, ein phlegmatischer alter Herr, der alle Geschäfte, Schreibereien, Abmachungen und Verkäufe dem Belieben seines Untergebenen, des Wirtschaftsschreibers Tarnow überließ. Tarnow war ein schweigsamer, gutmütiger und mitleidiger Mensch. Er konnte Niemanden beleidigen oder kränken, er konnte keinem Menschen ein böses Wort sagen. Ungefähr einen Monat, nachdem er seine Stellung angetreten, ereignete sich folgender Vorfall. Der Fuhrknecht Stauff hatte zu schwer aufgeladen. Das einzige Pferd zog an dem übervollen Wagen, als ob ihm die Rippen springen wollten; es war zum Erbarmen. Das schlecht genährte Tier, das längst sein Gnadenbrot oder den Todesstreich verdient hatte, brachte den Wagen kaum bis zum Hof, der etwas bergig anstieg, wie denn überhaupt das ganze Gut auf einem Hügel lag, der die Form eines Katzenbuckels hatte. Die Schindmähre bemühte sich umsonst, das ächzende und knarrende Fuhrwerk in die Höhe zu ziehen; sie verdrehte die Augen, hing den Kopf tief und angespannt nach vorn, tappte mit den Hufen verzweifelt und in schnellen Schlägen herum, zerrte und zerrte, aber der Wagen, der mit Ziegeln für den Bau einer Art Waschküche beladen war, rührte sich nicht von der Stelle. Der Knecht aber bildete sich ein,