Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann

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ergriff ihn zum erstenmal in seinem Leben ein Bedürfnis nach dem andern Menschen, nach Hingabe, eine Ahnung von Liebe. Als das Mädchen tot war, entzog er sich dem Gewühl der um Hilfe und Rettung bemühten Leute, ging in seine Stube, verfaßte eine Beichte seiner Untat, ein ziemlich pedantisches Schriftstück, und nachdem er die Rechnung mit der Menschheit in gewohnter Sorgfalt aufgestellt hatte, beglich er sie sogleich und erhängte sich. Das macht die großen Verbrecher am Ende doch klein, daß sie unter ihren Handlungen zusammenbrechen, nicht bloß, weil sie das irdische Gericht fürchten, sondern weil ihr Geist zu schwächlich ist, um das Antlitz einer Wirklichkeit zu ertragen und ihre Seele zu verkümmert, um einer Verantwortung gewachsen zu sein.

      »Ich möchte von einem solchen Scheusal am liebsten nichts hören«, sagte Franziska; »wie ungerecht geht es doch zu in der Welt! Der arme Streckenwächter darf nicht den Arzt finden, der ihm sein kleines häusliches Glück erhalten könnte, und dieser Unhold zaubert durch ein Werk des Grauens ein Geschöpf an seine Seite, dessen Zärtlichkeit zwischen Tod und Leben mich beinah weinen macht, weil soviel wahres Frauentum darin liegt.«

      »Und ein tiefer Sinn«, fügte Lamberg hinzu; »Luzifer wird durch den Engel erlöst.«

      »Man erkennt aus alledem, wie verworren angelegt und wie unergründlich die Charaktere sind, die man in oberflächlichem Sinn als einfache bezeichnet«, bemerkte Borsati. »Der sogenannte einfache Mensch steht dem Schicksal am nächsten, ist ihm wie auch den verborgenen Kräften und Instinkten seiner eigenen Natur am hilflosesten verfallen. Der höher geartete spielt schon, kombiniert, ist vorbereitet durch Erkenntnis oder ermüdet durch seine Fähigkeit zum Miterleben. Er sammelt die Erfahrungen derer, die eingreifen und zermalmt werden.«

      »Gerade im kleinen Beamten stecken oft die niedrigsten und gefährlichsten Leidenschaften«, versetzte Cajetan; »welche Verworfenheit zeigt sich oft an einem simplen Dorfschullehrer, was für eine berechnete Tücke an manchem Gerichtsfunktionär auf dem Land! Stellen wir uns vor, daß der biedere Herr mit dem roten Kopf und den hastigen Augen, der da im Wirtshaus sitzt und seine Zehnhellerzigarre zerbeißt, weil das bloße Saugen des Gifts ihm nicht genügt, stellen wir uns vor, daß plötzlich die soziale Kette, die sich um ihn schlingt, abfiele, seine Machtgelüste ungehemmt sich betätigen dürften, – das Land würde rauchen von den Opfern, die seine Eitelkeit, seine Dummheit, sein Ehrgeiz und sein Fanatismus fordern würden.«

      »Es gibt ein Beispiel von einer derartigen Entfesselung eines gemeinen Strebers«, sagte Lamberg; »Collot d’Herbois war ein mittelmäßiger Schauspieler in Lyon. Er wurde in jeder Rolle, die er auf dem Theater spielte, erbarmungslos ausgezischt. Nun sind ja schlechte Komödianten, die ausgezischt werden, keine Seltenheit, aber in den meisten Fällen müssen sie ihre Erbitterung und Enttäuschung ertragen lernen. Mit Collot d’Herbois aber wollte das Geschick offenbar einmal demonstrieren, was ein durchgefallener Mime zu tun imstande ist, wenn er für die erlittenen Niederlagen Rache nehmen darf. Beim Ausbruch der Revolution ging d’Herbois nach Paris und wurde in den Nationalkonvent gewählt. Sobald es anging, ließ er sich nach Lyon versetzen, und dort begann er nun sein Strafgericht. Er brachte sämtliche Kritiker und Zeitungsredakteure aufs Schafott, verschonte nicht seinen früheren Direktor, seine Kollegen, die die Gunst der Theaterbesucher erfahren hatten, die einflußreichen Personen der Gesellschaft, Leute, die ihm irgend einmal durch Wort oder Blick ihr Mißfallen bezeigt hatten, und mit dem Souffleur und dem Kassierer des Theaters ließ er am selben Tag einen Freund hinrichten, der ihm während seiner Bühnenlaufbahn bisweilen Ratschläge erteilt und nützliche Winke gegeben hatte. Bei den Sitzungen und der Verkündigung der Verdikte trug er ein majestätisches Benehmen zur Schau, und seine Tiraden waren ebenso talentlos wie jemals auf der Szene, nur war er gegen das Ausgezischtwerden vollkommen gesichert.«

      »Dem ist einmal in Erfüllung gegangen, wovon sonst Millionen ihre geheimsten Wünsche nähren«, rief Lamberg lachend.

      »So schlecht denkst du von den Schauspielern, Georg?« fragte Franziska traurig.

      »Nein, meine Liebe, überhaupt!« antwortete Lamberg. »Zweifellos ist jedenfalls, daß ein Mensch, dessen Ehrgeiz größer ist als seine Begabung, lasterhaft werden muß.«

      »Dieser Collot d’Herbois erinnert mich an die Rache eines Invaliden aus dem deutsch-französischen Krieg, der auch die erhoffte Anerkennung seiner Verdienste nicht finden konnte«, sagte Borsati. »Bei Mars la Tour rettete er als gemeiner Soldat eine ganze Batterie, indem er, mehr aus Angst denn aus Mut, mit einer Kanonenputzstange wie toll um sich hieb und die Angreifer so lange in Schach hielt, bis Verstärkung kam. Er wurde schwer verwundet, und da seine Tat die höchste militärische Belohnung forderte, wurde er für bewiesene Tapferkeit vor dem Feind mit einer Medaille ausgezeichnet, deren Rang bedingt, daß alle Posten vor dem Träger salutieren und alle Wachen ins Gewehr treten. Als Krüppel in die Heimat zurückgekehrt, bewarb er sich um die Stelle eines Nachtwächters. Wie verständlich, wünschte man nicht einen Nachtwächter, der nur im Besitz eines einzigen Beines war, und wollte ihm ein minder anstrengendes, ja sogar würdevolleres und einträglicheres Amt verschaffen. Aber nein, er hatte den Ehrgeiz, Nachtwächter zu werden, denn er hatte eine schöne Baßstimme und gefiel sich in dem Gedanken, das Liedchen von der Zeitlichkeit und Ewigkeit und drohenden Gefahren mit jeder Glockenstunde melodisch zu Gehör zu bringen. Ärgerlich über die Verweigerung lag er tagsüber in den Bierhäusern und zog zu allgemeinem Verdruß acht- bis zehnmal, immer an der Spitze eines unflätig brüllenden Pöbelhaufens, an der Hauptwache vorbei, wo dann der Posten die Soldaten ins Gewehr rufen mußte, um dem hochdekorierten Querulanten die vorschriftsmäßige Ehrung zu erweisen. Die Sache ging durch viele Instanzen, man konnte sich aber schließlich doch nicht anders helfen, als daß man dem rebellischen Kriegsmann seinen Willen erfüllte. Und ich glaube, er tutet und singt noch jetzt allnächtlich zum Vergnügen der Bürger und zur Zufriedenheit der hohen Behörde.«

      Borsatis ruhige Art, die ohne vordringende Ironie war, vermochte den Zuhörern selbst mit einer so simplen Begebenheit noch ein Lächeln abzuschmeicheln. Es kam dann die Rede wieder auf die Ehrgeizigen, da Franziska, als hänge sie nicht nur mit geistiger Teilnahme an dem Thema, noch einige Fragen stellte. Beim Austausch der Meinungen fiel Hadwigers Schweigsamkeit mehr auf als am Beginn des Abends, und obwohl er in einer bescheidenen Haltung schweigsam war, lastete seine Abkehr vom Gespräch auf den Freunden, und sie hatten nicht so sehr das Gefühl, einen stummen Kritiker fürchten zu müssen, als das andere, daß er sich die Bequemlichkeit des Zuhörens gar zu billig verschaffte. Nur Franziska ahnte in seinem Verhalten achtenswertere Gründe, empfand einen heimlichen Schmerz mit ihm, eine Sorge, ein schwermütiges Zurückschauen, ja, böses Gewissen gegenüber der leichten Stunde, und sie faßte den Vorsatz, ihn so mild wie möglich aus seiner Stille zu treiben, allerdings nicht mehr heute; heute war sie müd.

      Cajetan hatte eine einleuchtende Darstellung vom Wesen des Ehrgeizes gegeben, denn die menschlichen Eigenschaften waren für sein Auge, was dem Chemiker ein Präparat unter dem Mikroskop ist. Zum Schluß sprang er auf, klatschte in die Hände und sagte entzückt, er habe auf einer Reise in Mexiko, die er vor zwei Jahren von den Staaten aus unternommen, eine Geschichte gehört, in der ein ehrgeiziger Charakter durch wundervolle Fügung zur Einsicht in das Trügerische seiner Ziele kommt. Er habe die Geschichte, die ihm ein sehr gebildeter junger Kreole erzählt, nie vergessen können, »und wenn es erlaubt ist,« schloß er mit drolliger Koketterie, »will ich sie morgen an den Mann bringen, – Verzeihung, auch an die Frau.«

      Lamberg richtete sich auf und sagte langsam und mit Gewicht: »Man lobe die Geschichte erst, nachdem sie erzählt ist; man lobe sie auch nicht selbst, sondern lasse sie von andern loben, vorausgesetzt, daß sie es verdient.«

      In bester Laune trennten sich die drei Hotelbewohner von Lamberg und Franziska, und da es inzwischen zu regnen aufgehört hatte, tauschten sie unterwegs ihre Ansichten über die Freundin aus. Keinem erschien sie als die, die sie ehedem gewesen, alle waren mitbedrückt von den Erlebnissen, welche sie so angsterfüllt verbarg. Mit liebevoller Politik, meinte Cajetan, müsse dieser Zustand von Scheu und Leiden beseitigt werden, und es gelte nur, den Augenblick zu finden,

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