Martin Luther. Martin Luther
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Die evangelische Theologie und Kirche ist offenbar mit einer nicht unerheblichen Hypothek belastet, die nicht leicht zu tilgen sein dürfte. Lässt man die im Laufe der kirchengeschichtlichen Epochen zu Tage getretenen spirituell-mystischen Rinnsale außer Acht1, die es auch im Protestantismus immer gegeben hat, so handelt es sich um ein spirituelles Defizit, wenn nicht gar um ein ebensolches Vakuum. Es besteht seit Jahrhunderten und dürfte, durch aufklärerisches Denken verstärkt, mit der Eigenart der reformatorischen Frömmigkeitspraxis zusammenhängen.
Hierfür einige Beispiele: Da ist etwa Adolf von Harnack (1851 – 1930), der als prominenter liberaler Theologe und Kirchenhistoriker an der Universität Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Das Wesen des Christentums“ in seinen Umrissen gezeichnet hat. Im Lehrbuch zur Dogmengeschichte dieses weithin gerühmten Protestanten liest man: „Die Mystik ist die katholische Frömmigkeit überhaupt, soweit diese nicht bloß kirchlicher Gehorsam, d.h. fides implicita, ist.“2 Ein Mystiker, der nicht Katholik wird, sei demzufolge bestenfalls „ein Dilettant“. Und Harnack fügt hinzu: „Die Mystik wird man niemals protestantisch machen können, ohne der Geschichte und dem Katholizismus ins Gesicht zu schlagen.“3 Harnack meinte im Übrigen, dass ein veräußerlichtes und vereinseitigtes Verständnis der lutherischen Rechtfertigungslehre die sogenannte „katholische Mystik“ gefördert und „das evangelische Lebensideal verdunkelt“ habe. Dass Harnack mit seiner negativen Bewertung der mystischen Erfahrung auf den Schultern anderer steht, etwa auf denen von Albrecht Ritschl im 19. Jahrhundert, und dass spätere Theologen, unter ihnen der Reformierte Karl Barth (1886 – 1968) sowie solche aus dem Luthertum, gefolgt sind, können wir hier beiseite lassen. Man fürchtete gar, es handle sich um einen „Abfall von Gott“, und dass man auf diese Weise eine egozentrierte, auf „Selbsterlösung“ ausgerichtete Menschengerechtigkeit zu etablieren versuche. Man meinte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die reformatorisch verstandene Rechtfertigung des Gottlosen als alleinige Tat Gottes gegenüber einer angeblich von Menschen gemachten Mystik verteidigen zu müssen.4 Der Erlanger Lutheraner Paul Althaus warnte bereits vor dem Gebrauch des Wortes „Mystik“ und schrieb (1924): „Die Mystik als selbständige religiöse Lebensform ist der Todfeind biblisch-reformatorischen Christentums und durch keine Synthese mit ihm auszugleichen.“5 In seiner Dogmatik charakterisiert er Mystik als „Aufhebung des personhaften Gegenübers von Gott und Mensch“. Vom Evangelium her gesehen stelle sie einen „Fluchtversuch vor der personhaften Wirklichkeit Gottes (dar) und aus der wahren Lage des Menschen vor ihm“6. Die mystische, somit die nach innen gewandte, Grundhaltung werde „durch Christus gerichtet und abgetan“. Es gelte nur das reformatorische Prinzip mit dem „sola gratia, sola fide“ (allein aus Gnaden, allein durch den Glauben). Alles andere sei widersinnige Zutat. In der Tat entspricht diese Position dem Ansatz Martin Luthers. Auf ihn meint man sich zu berufen, wenn man sich aus protestantischer Sicht skeptisch über die mystische Spiritualität äußert. Die Zahl ähnlicher Aburteilungen ließe sich vermehren.
Angesichts eines solchen Negativbefundes stellt sich die Frage, welche Chance die christliche Mystik im Protestantismus überhaupt gehabt hat, und zwar bereits in ihrer Anfangszeit, also etwa im ersten Jahrhundert nach dem sogenannten Thesenanschlag von 1517. Und muss man – um auf jenes Wort von Harnack anzuspielen – etwa die Mystik erst künstlich „protestantisch“ machen? Oder gehört nicht gerade sie vielmehr zum Wesensbestand des christlichen Glaubens überhaupt, und zwar unabhängig von allen konfessionellen Verschiedenheiten? Man denke nur an die reiche Tradition, die sich von der Urchristenheit, von Paulus und dem Johannesevangelium her über viele Jahrhunderte und kirchengeschichtliche Epochen hinweg erstreckt.7 Und nicht nur dies: Man nehme nur das berühmte Wort Karl Rahners: „… der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein …“8
Zu sprechen ist nun von Martin Luther (1483 – 1546) selbst. Nicht darum soll es gehen, den Wittenberger Reformator für eine bestimmte Frömmigkeitsform ausschließlich dingfest machen zu wollen oder als „Mystiker“ auszurufen. Aber außer Frage steht, dass Luther ohne wirkkräftige Impulse aus der mystischen Tradition gar nicht zu denken ist. Sie bestimmt seine gelebte individuelle Frömmigkeit, sein Gebetsleben, seine meditative Vergegenwärtigung der Christusbotschaft. Will man seine Glaubensart auf einen einfachen Nenner bringen, dann erinnert man sich seiner These: „Gebet, Meditation und [Bewährung in der] Anfechtung machen einen Theologen aus.“ (Oratio, meditatio et tentatio faciunt theologum). Sie begründen das geistliche Leben eines Christenmenschen. Davon wird noch zu sprechen sein.
Man erinnere sich: Luther, der aus Eisleben stammende anfängliche Jurastudent, hatte bereits während seines Studiums eine Lebenswende vollzogen.9 Es war ein Spontanereignis während eines heftigen Gewitters, das den letzten Anstoß dafür gab, dass der mit dem Todesproblem ringende junge Mann seinem Leben die entscheidende Wende gab. Es führt zum Entschluss, ein Augustiner-Eremit, also Mönch und Ordensmann, zu werden. In seinem Erfurter Mutterkloster wurde er in die geistliche Disziplin eingeführt, in Gebet und Meditation, nicht zuletzt in die cognitio Dei experimentalis, also in die auf Erfahrung gegründete Gotteserkenntnis. Diese Formulierung gilt als eine Standarddefinition dafür, was schon Jahrhunderte vor Luther unter christlicher Mystik verstanden worden ist. Insofern hat christlicher Glaube nicht etwa mit einem bloßen Für-wahr-Halten dogmatischer Aussagen zu tun, sondern mit innerer Erfahrung, die wiederum auf die ganze Lebenshaltung im Angesicht Gottes ausstrahlt. Mit anderen Worten: Unter Mystik lässt sich die lebendige, in die Tiefe der menschlichen Existenz eingreifende Erfahrung der Gottesgegenwart verstehen. Von daher gesehen hat Luther auch niemals aufgehört, „katholisch“ zu sein. Das heißt, er hat nie aufgehört, der einen allgemeinen Kirche des einen Jesus Christus anzugehören und seine Existenz auf ihn zu gründen.
Zum anderen gibt es das, was sich als die „Ökumene des Geistes“ bezeichnen lässt, die ebenfalls von keiner Konfession, auch nicht vom Christentum in seiner Gesamtheit ausschließlich in Anspruch genommen werden kann. Es handelt sich darum, dass der geistoffene Mensch mit all jenen innerlich verbunden ist, die in der einen oder anderen Religionsform durch die innere Stimme des Geistes angesprochen werden. Mystisch sensible Menschen, unter ihnen in den Tagen der Reformation beispielsweise Thomas Müntzer oder Sebastian Franck, setzten sich über die konfessionalistischen Pferche hinweg und wollten auch „Türken und Heiden“, also Muslime und andere Nichtchristen, dabei haben, wenn sie vom Leben im Geist Zeugnis ablegten. Das entsprach freilich einer erheblichen Erweiterung ihres Mystik-Verständnisses. Zurückblickend könnte man auch von der Bewegung der Gottesfreunde und Gottesfreundinnen sprechen, die in den Tagen von Johannes Tauler, Heinrich von Nördlingen, Christina Ebnerin und vielen anderen in einem regen Austausch gelebt haben. Von diesem älteren Zweig dieser Geistesart ist Luther nicht abzulösen. Auch wenn er Schriften Meister Eckharts wohl nicht kannte, so schätzte er die Predigten Taulers sehr! Thomas Müntzer und viele andere folgten hierin Luthers Empfehlung.
2. LUTHERS ZUGANG ZUR MYSTIK
Die Berührung mit der Mystik muss bei Luther schon verhältnismäßig früh eingesetzt haben, auch wenn sie erst in der Reife seines Lebens und theologischen Schaffens voll zum Tragen gekommen ist. Bereits während seiner kurzen Magdeburger Schulzeit (1497/98) kam es zu ersten Berührungen. Martins Lehrer waren in Magdeburg „Brüder vom gemeinsamen Leben“. Es handelte sich um Vertreter jener Devotio moderna (neue Frömmigkeit), die eine persönlich erfahrene und gelebte Religiosität betonten. Es ging um die Imitatio Christi10, um