Die politischen Ideen. Ulrich Thiele
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Zwar gebühre Rousseau (und ihm teilweise folgend Kant) das Verdienst, zuerst das Prinzip des Staatsrechts im souveränen Willen gefunden zu haben; freilich habe er die politische Souveränität noch ausgehend von den einzelnen Willen gedacht, weswegen der im Staat realisierte allgemeine Wille nur immer als gemeinschaftlicher gefasst werden könne, der sich ‚mechanisch‘ aus einzelnen (bzw. vereinzelten) Willen zusammensetze und sich ebenso gut wieder in seine Elemente auflösen könne. Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens […] und den allgemeinen Willen […] nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewusstem hervorgehe, fasste, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat (§ 258, 400).
Gegen Rousseau will Hegel demonstrieren, dass ein Gesellschaftsvertrag als (reale oder gedachte) Legitimationsquelle von öffentlichem Recht immer nur mangelhaftes Recht zustandebringen kann. Denn die objektive Geltung der auf diesem Weg erzeugten Rechtsordnung bleibe von der subjektiven Willkür der Herrschaftsunterworfenen abhängig. Wenn aber der Vertrag als mögliche Quelle sowohl des inneren wie des äußeren Staatsrechts ausscheiden soll, so hätte Hegel konsequenterweise auf die Gewalt als den klassischen Modus der einseitigen Stiftung öffentlichen Rechts verweisen können. Zwar finden sich gelegentlich derartige Aussagen. Doch dies scheint nicht Hegels eigentliches Argument gewesen zu sein. Die Frage nach dem Realursprung einer Verfassung soll vielmehr einerseits als rechtsphilosophisch irrelevant und andererseits als legitimationsuntergrabend ausgegrenzt werden. Die Frage als solche sei nämlich geeignet, den Patriotismus der Bürger zu beeinträchtigen: Die Verfassung ist die Grundlage, der Boden, auf dem alles geschieht. Die Verfassung muss daher als eine ewige Grundlage angesehen werden, nicht als ein Gemachtes (Naturrecht, § 134, 190).
Der Glaube an die Konstruierbarkeit von Verfassungen hatte speziell bei Sieyes ihren rationalistischen Höhepunkt erreicht. Verfassungen sind aber für Hegel keine ‚auf dem Reißbrett‘ zu konstruierenden Kunstwerke, sondern quasiorganische Gebilde, die aus den Sitten der Völker erwachsen. Verfassungen können also nicht ‚gemacht‘ werden. Sie sind vielmehr als ‚Organe der Volksgeister‘ gedacht, die sich mit der Zeit entwickeln können, deren willkürliche Veränderung sich aber verbiete.
Aus Hegels Sicht untergrabe die nüchtern-prozeduralistische Denkungsart des Franzosen die Legitimität jeder Verfassung: das Gelten einer Verfassung werde zu etwas nur Relativem, der Willkür Überantwortetem: Dagegen sei an der Erkenntnis festzuhalten, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist (Grundlinien, § 273, 439).
Gelegentlich tendiert Hegel sogar dazu, auch Sieyes’ Pouvoir-Constituant-Theorie mit der terroristischen Entgleisungsphase der Französischen Revolution in Zusammenhang zu bringen, besonders dort, wo das Prinzip der Volkssouveränität im Allgemeinen problematisiert wird (§§ 279, 301, 317).
Hegel wertet die Schreckenszeit der Französischen Revolution als Ergebnis eines übersteigerten Fanatismus, der allenfalls ein Abstraktes, aber keine Gliederung hervorgebracht habe und er erklärt diese Tendenz aus einer Übersteigerung des repräsentations- und institutionenfeindlichen Aspektes der Gleichheitsidee: Deswegen hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewußtsein der Gleichheit zuwider ist (§ 5, 52.).
Auch die Volkssouveränität zählt für Hegel zu den ambivalenten Ideen: Zum einen bringe dieser Grundsatz zum Ausdruck, dass die Freiheit bzw. der Wille zum modernen Prinzip des Staats geworden ist. Zum anderen jedoch könne die Losung der Volkssouveränität die verfehlte Meinung hervorrufen, alle staatliche Autorität sei von der Willkür, Meinung und beliebige[n], ausdrückliche[n] Einwilligung der Bürger abhängig. Geschieht dies, dann werde jede institutionelle Verfestigung ihres Gemeinwillens unter Verdacht gestellt. In der Französischen Revolution sei die Idee der Volkssouveränität zur realen Gewalt geworden, was eine Staatsverfassung hervorgebracht habe, die, nach Umsturz alles Bestehenden und Gegebenen, ausschließlich vom Gedanken und nicht mehr von bestehenden Sitten und Lebensformen ausgegangen sei. Der Versuch, von allem Bestehenden abzusehen und der Verfassung nicht das wirkliche, sondern bloß das vermeinte Vernünftige zur Basis geben zu wollen, sei dementsprechend zur fürchterlichsten und grellsten Begebenheit geraten (§ 258, 400), denn Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören (Philosophie der Geschichte, 529).
Dementsprechend sei die politische Lage auch höchst fragil gewesen: Verfassungen seien bedenkenlos geändert, durchbrochen oder suspendiert worden. Auch hätte man Regierungen oder reguläre Parlamente immer wieder durch Staatsstreiche abgesetzt. Dies könne zwar nicht die welthistorische Bedeutung der Revolution schmälern (ebd.), doch müsse man eben auch die Brüchigkeit des französischen Staatsrechts zur Kenntnis nehmen, die aus der Verwirklichung eines abstrakten Gleichheitsideals resultierte: So geht die Bewegung und Unruhe fort (ebd., 535).
Aus Hegels Perspektive wird die Instabilität des politischen Institutionensystems Frankreichs wesentlich durch Mängel der bisherigen Verfassungen verursacht. Dabei hat er besonders die Systeme der Gewaltenteilung im Blick. Speziell die organisatorische Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive sei bisher unzulänglich geregelt gewesen, mit dem Ergebnis, dass beide Funktionen meistenteils in dichotomer Beziehung zueinander gestanden hätten. So sei die Legislative häufig beherrscht worden von Männer[n] der Prinzipien, die abstrakte Ideale beschworen hätten, statt, wie es erforderlich gewesen wäre, der Exekutive hinreichend präzise gesetzliche Normen vorzugeben und sie damit zum Handeln zu ermächtigen und zu befähigen. Aktivitäten der Regierung bzw. der Verwaltung hätten demgegenüber immer schon unter dem Verdacht gestanden, die Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen.
Das Hauptmanko der revolutionären Politik sieht Hegel darin, dass zwar eine weiter bestimmte Gesetzgebung, eine Organisation der Staatsgewalten und der Behörden der Administration […] als notwendig zugegeben wird. In der politischen Praxis dagegen habe man weder die eine noch die andere Forderung eingelöst. Statt legislative Pflichten (auf der einfachgesetzlichen wie der verfassungsrechtlich-organisatorischen Ebene) zureichend zu erfüllen, habe sich die politische Führungsschicht deklamatorisch auf die Menschen- und Staatsbürgerrechte berufen: Die Staatsgesetzgebung ist für die Männer der Prinzipien im wesentlichen ungefähr mit den […] Droits de l’homme et du citoyen erschöpft. Vor dem Hintergrund dieser pathetisch beschworenen Legitimationsformel der Rechtedeklaration hätte man tendenziell jede Betätigung der Institutionen, welche [in Wahrheit] die öffentliche Ordnung und die wirkliche Freiheit ist, per se als gleichheitswidrig verdächtigt: Gehorsam gegen die Gesetze wird notwendig zugegeben, aber von den Behörden, d. h. von Individuen gefordert, erscheint er der Freiheit zuwider; die Befugnis, zu befehlen, der Unterschied […] des Befehlens und Gehorchens überhaupt, ist gegen die Gleichheit; eine Menge von Menschen kann sich den Titel von Volk geben, und mit Recht, denn das Volk ist diese unbestimmte Menge; von ihm aber sind die Behörden und Beamten, überhaupt die der organisierten Staatsgewalt angehörigen Glieder unterschieden, und sie erscheinen damit in dem Unrecht, aus der Gleichheit herausgetreten zu sein und dem Volke gegenüberzustehen, das in dem unendlichen Vorteil ist, als der souveräne Wille anerkannt zu sein. Dies ist das Extrem von Widersprüchen, in dessen Kreise eine Nation herumgeworfen wird, deren sich diese formellen Kategorien bemächtigt haben (Reformbill, 127).