Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
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Sie begann mit der Gründung der Randlinger Blechmusik.
Die Pfleger, die Blasinstrumente spielen konnten, hatten beschlossen, sich zusammenzutun. Ein Dirigent wurde gesucht, gefunden: Knuchel mit Namen, Pfleger auf K. Breites Kinn, Wulstlippen, Bibelleser, Mitglied einer Sekte des Dorfes. Die Bläser hielten eine Versammlung ab. Knuchel verlangte folgendes: Es dürften nur Choräle und ernste Volkslieder gespielt werden, keine Märsche, keine Tänze. Vor jeder Probe müsse ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen, gebetet werden, nach der Probe ebenfalls… Der kleine Gilgen spielte Posaune. Außerdem führte er die Opposition…
Die Opposition setzte sich zusammen aus den weltlich Gesinnten… Sie wollten das Theater, wie sie sagten, nicht mitmachen. Der kleine Gilgen meinte, eine Musik könne der Beginn einer Organisation sein… Er wollte klare Stellungnahme. Kein religiöses Theater, sondern Kameradschaft… Er wurde überstimmt. Die ›weltlich Gesinnten‹ traten gleich bei der ersten Sitzung aus und gründeten ein eigenes Musikkorps. Das sollte Märsche spielen, Walzer und bei den ›Anlässen‹ zum Tanz aufspielen. Aber es fehlte ihnen der Dirigent. Gilgen, obwohl mit Sorgen überhäuft, übte mit den Leuten. Dann spielten sie einmal, am Silvester… Es war kläglich. Falsch, ohne Rhythmus… Sogar die Patienten lachten, es wurde gepfiffen, der Direktor wurde wütend, weil einige Gäste anwesend waren und er sich blamiert fühlte… Die ›weltliche Musik‹ wurde aufgelöst, die paar Bläser, die gern spielen wollten, krochen zu Kreuze und traten in die Kapelle der ›Stündeler‹ über. Knuchel als Dirigent war gut. Sie spielten nach zwei Wochen an einem Sonntagmorgen, brachten dem alten Direktor ein Ständchen, der Direktor beglückwünschte sie, sie erhielten aus dem Unterhaltungsfonds der Anstalt eine Subvention… Knuchel stellte seine Bedingungen: Er wolle gern mit seinen Leuten an den Anlässen spielen, aber während der Musikstücke dürfe nicht getanzt werden. Die Blechmusik spielte Trauermärsche, so daß das Tanzen ohnehin nicht in Frage kam, Choräle und allenfalls noch das Beresinalied.
Der Wachtmeister werde finden, die Geschichte sei müßig. Im Gegenteil… Sie erhelle blitzartig die Spannungen unter dem Pflegepersonal… Studer möge erlauben, daß er ein wenig von sich berichte…
Jutzeler sprach sehr ruhig, es klang, als ob er in einer Kommissionssitzung ein Referat über einen langweiligen Gegenstand halten müsse… Immerhin schwang etwas wie verschüttete Bewegung in seinen Worten mit…
Er sei als Verdingbub aufgewachsen… Der Wachtmeister wisse, was das heiße… Im Berner Oberland… Das bedeute Hunger, Schläge, kein freundliches Wort… Ein sattsam bekanntes Thema, unnötig, ein Wort weiter darüber zu verlieren… Er habe das Glück gehabt, daß er dem Pfarrer des kleinen Dorfes aufgefallen sei, weil er einmal, oben auf einer Matte, einem Touristen ein gebrochenes Bein kunstvoll geschient habe… Der Arzt habe sich gewundert… So sei es gekommen, daß er mit achtzehn Jahren in eine Krankenpflegerschule habe eintreten können… Es sei sehr religiös dort zugegangen, aber der Wachtmeister möge ihm die Schilderung dessen ersparen, was unter der frommen Oberfläche vorgegangen sei. Nichts Erfreuliches… Er, Jutzeler, habe dann nach bestandener Prüfung in Spitälern als Krankenpfleger gearbeitet. Und einmal auf einer Ferienreise habe er die Anstalt Randlingen besucht. Es habe ihn interessiert, auch sei die Bezahlung als Irrenpfleger besser als die in den Spitälern… Er habe heiraten wollen… Der Direktor sei damals gerade in den Ferien gewesen, Dr. Laduner habe den Direktor vertreten und ihn angestellt. Die Anstalt habe damals ausgesehen…
»Ich weiß«, sagte Studer. Die Frau Doktor habe ihm das geschildert.
Gut. Jutzeler erzählte Bekanntes: die Schlafkuren, der zähe Kampf um die Seele des Demonstrationsobjektes Pieterlen (merkwürdig war vielleicht nur, daß der Abteiliger den Ausdruck Dr. Laduners gebrauchte: ›das Demonstrationsobjekt‹), der Versuch, eine gewisse Einmütigkeit unter den Pflegern herzustellen, ein Versuch, der mit Dr. Laduner besprochen worden war…
»Es war wie in der Krankenpflegerschule… Die Pfleger konnten sich nur z'leidwärche… Keine Kameradschaft. Immer reklamieren wegen der langen Dienstzeit – von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends… Aber kein Versuch, die Lage zu ändern… Die andern Anstalten organisierten sich – wir blieben immer zurück… Die andern drohten mit Streik, wenn man ihre Lage nicht bessere… In Randlingen kuschten sie… Der Direktor hatte den Bruder seiner zweiten Frau zum Maschinenmeister ernannt, der sabotierte, wo er konnte; ich bin nicht müde geworden… Ich hab viel gelesen über Taktik, Kampf… Ich hab auch andere Bücher gelesen, besonders eines, das ziemlich merkwürdig war. Darin sagt der Autor: Dein ärgster Feind, Prolet, das ist dein Mitprolet… Ich hab' das erfahren hier in der Anstalt… Wenn mich Dr. Laduner nicht immer gedeckt hätte, ich wäre sicher schon lange geflogen… So habe ich eine Abteilung übernehmen müssen… Ich trage die Verantwortung für alles, was im B passiert, denn der Oberpfleger Weyrauch…«
»Hält sich Zeitschriften über Nacktkultur…«
»Exakt, Wachtmeister…« und Jutzeler lächelte schwach. »Ich hab' dann doch ein paar Pfleger zusammenbekommen, wir haben Anschluß gesucht mit den organisierten Pflegern aus den andern Anstalten… Aber die Stündeler haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht… Die Stündeler und der Maschinenmeister… Ihr müßt euch vorstellen, Wachtmeister, es sind nicht nur zwei große Gruppen in solch einer Anstalt: die Stündeler und die Organisierten… Zwischen beiden pendelt der größere Haufen hin und her… Kennen Sie die Französische Revolution?«
»Wenig…«
»Zwischen den beiden extremen Parteien«, erklärte Jutzeler, und er sprach schriftdeutsch, aber am singenden Tonfall erkannte man noch immer den Oberländer… »Zwischen der Rechten und der äußersten Linken, dem ›Berg‹, lag das Zentrum – der Sumpf, sagte man damals, ›le marais‹… Das waren Leute, die leben wollten, verdienen, es wieder gut haben… Sie haben den Ausschlag gegeben… Wir haben auch eine Sumpfpartei… Das sind die Leute, die zufrieden sind, wenn andere ihnen die Lohnerhöhung verschafft haben, die Geld auf der Sparkasse haben, die um ihre Stelle bangen…«
»Bohnenblust…« sagte der Wachtmeister leise.
»Unter andern… Die gaben den Ausschlag. Wir traten in den Staatsangestelltenverband ein… Und die Stündeler in die Evangelische Arbeiterpartei… Nun ja, der Direktor war zufrieden; Dr. Laduner, zu dem ich nach der Sitzung ging, zuckte die Achseln… Es sei halt nichts zu machen… In dieser Krisenzeit… Mich haben die andern nie offen angegriffen, aber die ganze Hetze gegen den Gilgen war eigentlich gegen mich gerichtet…«
Jutzeler blickte auf den Toten. Der kleine Gilgen schien zu lächeln…
»Dr. Laduner mochte den Gilgen gern… Das wußten die andern. Hier auf der Abteilung hab' ich sonst gute Leute, fast alles junge Pfleger, aber ich muß immer hinter ihnen her sein… Gilgen war der Älteste. Ich nahm ihn als Stellvertreter. Das war ein großer Fehler… Gilgen war tüchtig, aber er verstand nichts von Disziplin… Und schließlich, auf einer Abteilung muß Ordnung sein. Besonders seit Dr. Laduner die Arbeitstherapie eingeführt hat, ist es nicht wie früher… Wir müssen uns um die Patienten kümmern, sie beschäftigen, auch in der Freizeit, sie sollen lesen, sie sollen spielen, sie sollen nicht wieder versinken, man soll sie entlassen können…«
Studer wunderte sich. Ein einfacher Mann, er war Verdingbub gewesen, er sprach ruhig, überlegt… Ein einfacher Mann, aber er wußte, was er wollte.
»Ich hab' dem Gilgen Vorwürfe machen müssen. Alle vierzehn Tage habe ich einen freien Tag, in der Woche dazwischen einen halben Tag… Im Jahr vierzehn Tage Ferien… Wenn ich zurückkam, war alles in Unordnung… Der Gilgen verstand nichts vom Befehlen… Wie alle schüchternen Leute, war er entweder zu grob oder zu weich… Die andern begannen ihn zu hassen…