Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution. Rosa Luxemburg

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Voraussetzungen für die Verwirklichung in vollem Maße des Zentralismus in der russischen Bewegung heutzutage in höchstem Maße störend wirken. Doch ist es unseres Erachtens verkehrt, zu denken, daß sich die noch unausführbare Majoritätsherrschaft der aufgeklärten Arbeiterschaft innerhalb ihrer Parteiorganisation vorläufig“ durch eine übertragene“ Alleinherrschaft der Zentralgewalt der Partei ersetzen lasse und daß die fehlende öffentliche Kontrolle der Arbeitermassen über das Tun und Lassen der Parteiorgane ebensogut durch die umgekehrte Kontrolle der Tätigkeit der revolutionären Arbeiterschaft durch ein Zentralkomitee ersetzt wäre.

      Die eigene Geschichte der russischen Bewegung gibt viele Belege für den problematischen Wert des Zentralismus in diesem letzteren Sinne. Die allmächtige Zentralgewalt mit ihren fast unbeschränkten Befugnissen der Einmischung und der Kontrolle nach Lenins Ideal wäre offenbar ein Unding, wenn sie ihre Macht lediglich auf die rein technische Sehe der sozialdemokratischen Tätigkeit, auf die Regelung der äußeren Mittel und Notbehelfe der Agitation – etwa die Zufuhr der Parteiliteratur und zweckmäßige Verteilung der agitatorischen und finanziellen Kräfte – beschränken sollte. Sie hätte nur dann einen begreiflichen politischen Zweck, wenn sie ihre Macht auf die Schaffung einer einheitlichen Kampftaktik, auf die Auslösung einer großen politischen Aktion in Rußland verwenden würde. Was sehen wir aber in den bisherigen Wandlungen der russischen Bewegung? Ihre wichtigsten und fruchtbarsten taktischen Wendungen des letzten Jahrzehntes sind nicht etwa von bestimmten Leitern der Bewegung, geschweige von leitenden Organisationen „erfunden“ worden, sondern sie waren jedesmal das spontane Produkt der entfesselten Bewegung selbst. So die erste Etappe der eigentlichen proletarischen Bewegung in Rußland, die mit dem elementaren Ausbruch des Petersburger Riesenstreiks im Jahre 1896 einsetzte und die zuerst die ökonomische Massenaktion des russischen Proletariats inauguriert hatte. Desgleichen war die zweite Phase – die der politischen Straßendemonstrationen – ganz spontan durch die Petersburger Studentenunruhen im März 1901 eröffnet. Der weitere bedeutende Wendepunkt der Taktik, der ihr neue Horizonte zeigte, war der „von selbst“ ausgebrochene Massenstreik in Rostow am Don mit seiner ad hoc improvisierten Straßenagitation, den Volksversammlungen unter freiem Himmel, den öffentlichen Ansprachen, woran der kühnste Stürmer unter den Sozialdemokraten noch wenige Jahre zuvor als an eine Phantasterei nicht zu denken gewagt hätte. In allen diesen Fällen war im Anfang “die Tat“. Die Initiative und die bewußte Leitung der sozialdemokratischen Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle. Es lag dies jedoch nicht sowohl an der mangelhaften Vorbereitung dieser speziellen Organisationen für ihre Rolle – wenn dieses Moment in beträchtlichem Maße auch mitgewirkt haben mag – und erst recht nicht am Fehlen dazumal in der russischen Sozialdemokratie einer allmächtigen Zentralgewalt nach dem bei Lenin entwickelten Plane. Umgekehrt, eine solche hätte höchstwahrscheinlich nur dahin gewirkt, die Unschlüssigkeit der Einzelkomitees der Partei noch größer zu machen und eine Entzweiung zwischen der stürmenden Masse und der zaudernden Sozialdemokratie hervorzubringen. Dieselbe Erscheinung: die geringe Rolle der bewußten Initiative der Parteileitungen bei der Gestaltung der Taktik, läßt sich vielmehr auch in Deutschland und überall beobachten. Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht „erfunden“, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konservativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen auszuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren. Die gegenwärtige Taktik der deutschen Sozialdemokratie wird zum Beispiel allgemein wegen ihrer merkwürdigen Vielgestaltigkeit, Biegsamkeit und zugleich Sicherheit bewundert. Das bedeutet aber nur, daß unsere Partei sich in ihrem Tageskampf wunderbar an den gegenwärtigen parlamentarischen Boden bis ins kleinste Detail angepaßt hat, daß sie das gesamte vom Parlamentarismus gebotene Kampfesterrain auszubeuten und den Grundsätzen entsprechend zu beherrschen versteht. Zugleich aber verdeckt bereits diese spezifische Gestaltung der Taktik so sehr die weiteren Horizonte, daß in hohem Maße die Neigung zur Verewigung und zur Betrachtung der parlamentarischen Taktik als der Taktik des sozialdemokratischen Kampfes schlechthin hervortritt. Bezeichnend für diese Stimmung ist zum Beispiel die Vergeblichkeit, mit der Parvus sich seit Jahren Mühe gibt, die Debatte über eine eventuelle Neugestaltung der Taktik für den Fall der Abschaffung des allgemeinen Wahl- rechtes in der Parteipresse in Fluß zu bringen, trotzdem eine solche Eventualität von den Führern der Partei durchaus mit bitterem Ernste ins Auge gefaßt wird. Diese Trägheit findet aber zum großen Teile ihre Erklärung darin, daß sich auch schwer in der leeren Luft der abstrakten Spekulation die Konturen und greifbaren Formen einer noch nicht existierenden, also imaginären politischen Situation darstellen lassen. Wichtig ist auch für die Sozialdemokratie jedesmal nicht das Vorausahnen und Vorauskonstruieren eines fertigen Rezeptes für die künftige Taktik, sondern die lebendige Erhaltung in der Partei der richtigen historischen Wertschätzung für die jeweilig herrschenden Kampfformen, das lebendige Gefühl für die Relativität der gegebenen Phase des Kampfes und für die notwendige Steigerung der revolutionären Momente vom Standpunkt des Endziels des proletarischen Klassenkampfes.

      Es hieße aber den aus ihrem Wesen notwendigerweise entspringenden Konservatismus jeder Parteileitung gerade künstlich in gefährlichstem Maße potenzieren, wenn man sie mit so absoluten Machtbefugnissen negativen Charakters ausstatten wollte, wie es Lenin tut. Wird die sozialdemokratische Taktik nicht von einem Zentralkomitee, sondern von der Gesamtpartei, noch richtiger, von der Gesamtbewegung geschaffen, so ist für einzelne Organisationen der Partei offenbar diejenige Ellenbogenfreiheit nötig, die allein die völlige Ausnutzung aller von der jeweiligen Situation gebotenen Mittel zur Potenzierung des Kampfes sowie die Entfaltung der revolutionären Initiative ermöglicht. Der von Lenin befürwortete Ultrazentralismus scheint uns aber in seinem ganzen Wesen nicht vom positiven schöpferischen, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten.

      Doppelt gewagt scheint ein solches Experiment gerade im gegebenen Moment für die russische Sozialdemokratie zu sein. Sie steht am Vorabend großer revolutionärer Kämpfe um die Niederwerfung des Absolutismus, vor oder vielmehr in einer Periode intensivster, schöpferischer Aktivität auf dem Gebiet der Taktik und – was in revolutionären Epochen selbstverständlich ist – fieberhafter sprungweiser Erweiterungen und Verschiebungen ihrer Einflußsphäre. In solchen Zeiten gerade der Initiative des Parteigeistes Fußangeln anlegen und ihre ruckweise Expansionsfähigkeit mit Stacheldrahtzaun eindämmen zu wollen hieße die Sozialdemokratie von vornherein für die großen Aufgaben des Moments in hohem Maße ungeeignet machen.

      Aus den angeführten allgemeinen Erwägungen über den eigentümlichen Inhalt des sozialdemokratischen Zentralismus läßt sich freilich noch nicht die konkrete Fassung der Paragraphen des Organisationsstatuts für die russische Partei ableiten. Diese Fassüng hängt naturgemäß in letzter Instanz von den konkreten Umständen ab, unter denen sich die Tätigkeit in der gegebenen Periode vollzieht, und kann – da es sich in Rußland doch um den ersten Versuch einer großen proletarischen Parteiorganisation handelt – kaum im voraus auf Unfehlbarkeit Anspruch erheben, muß vielmehr auf jeden Fall erst die Feuerprobe des praktischen Lebens bestehen. Was sich aber aus der allgemeinen Auffassung des sozialdemokratischen Organisationstypus ableiten läßt, das sind die großen Grundzüge, das ist der Geist der Organisation, und dieser bedingt, namentlich in den Anfängen der Massenbewegung, hauptsächlich den koordinierenden, zusammenfassenden und nicht den reglementierenden und exklusiven Charakter des sozialdemokratischen Zentralismus. Hat aber dieser Geist der politischen Bewegungsfreiheit, gepaart mit scharfem Blicke für die prinzipielle Festigkeit der Bewegung und für ihre Einheitlichkeit, in den Reihen der Partei Platz gegriffen, dann werden die Schroffheiten eines jeden, auch eines ungeschickt gefaßten Organisationsstatuts sehr bald durch die Praxis selbst eine wirksame Korrektur

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