Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution. Rosa Luxemburg

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Mischmasches gedient hat und wie auch eine Revision des deutschen Parteistatuts in diesem Sinne jetzt eine Notwendigkeit geworden ist. Aber auch in diesem Falle soll das Parteistatut nicht etwa an sich eine Waffe zur Abwehr des Opportunismus sein, sondern bloß ein äußeres Machtmittel zur Ausübung des maßgebenden Einflusses der tatsächlich vorhandenen revolutionären proletarischen Majorität der Partei. Wo eine solche noch fehlt, kann sie durch die rigorosesten Paragraphen auf dem Papier nicht ersetzt werden.

      Doch ist der Zufluß bürgerlicher Elemente, wie gesagt, durchaus nicht die einzige Quelle der opportunistischen Strömung in der Sozialdemokratie. Die andere Quelle liegt vielmehr im Wesen des sozialdemokratischen Kampfes selbst, in seinen inneren Widersprüchen. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist ein Prozeß, dessen Besonderheit darin liegt, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, ihn aber ins Jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber andererseits nur im alltäglichen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, also nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der revolutionären Umwälzung, das ist der dialektische Widerspruch der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgang zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Preisgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, vorwärtsarbeiten muß.

      Es ist deshalb eine ganz unhistorische Illusion, zu denken, die sozialdemokratische Taktik im revolutionären Sinne könne im voraus ein für allemal sichergestellt, die Arbeiterbewegung könne vor opportunistischen Seitensprüngen ein für allemal bewahrt werden. Zwar liefert die Marxsche Lehre vernichtende Waffen gegen alle Grundtypen des opportunistischen Gedankens. Da aber die sozialdemokratische Bewegung eben eine Massenbewegung und die ihr drohenden Klippen nicht aus den menschlichen Köpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen entspringen, so können die opportunistischen Verirrungen nicht von vornherein verhütet werden, sie müssen erst, nachdem sie in der Praxis greifbare Gestalt angenommen haben, durch die Bewegung selbst – allerdings mit Hilfe der vom Marxismus gelieferten Waffen – überwunden werden. Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, erscheint der Opportunismus auch als ein Produkt der Arbeiterbewegung selbst, als ein unvermeidliches Moment ihrer geschichtlichen Entwicklung. Gerade in Rußland, wo die Sozialdemokratie noch jung und die politischen Bedingungen der Arbeiterbewegung so abnorm sind, dürfte der Opportunismus sich einstweilen in hohem Maße aus dieser Quelle, aus dem unvermeidlichen Tasten und Experimentieren der Taktik, ergeben, aus der Notwendigkeit, den Gegenwartskampf in ganz eigenartigen, beispiellosen Verhältnissen mit den sozialistischen Grundsätzen in Einklang zu bringen.

      Ist dem aber so, dann erscheint um so wunderlicher die Idee, gleich in den Anfängen einer Arbeiterbewegung das Aufkommen der opportunistischen Strömungen durch 4iese oder andere Fassung des Organisationsstatuts verbieten zu können. Der Versuch, den Opportunismus durch solche papierne Mittel abzuwehren, kann tatsächlich nicht diesem, sondern nur der Sozialdemokratie selbst ins Fleisch schneiden, und indem er in ihr das Pulsieren eines gesunden Lebens unterbindet, schwächt er ihre Widerstandsfähigkeit im Kampfe nicht nur gegen opportunistische Strömungen, sondern auch – was doch gleichfalls von einiger Bedeutung sein dürfte – gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Das Mittel wendet sich gegen den Zweck.

      In diesem ängstlichen Bestreben eines Teiles der russischen Sozialdemokraten, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat. Drollig sind fürwahr die Kapriolen, die das verehrte menschliche Subjekt der Geschichte in dem eigenen geschichtlichen Prozeß mitunter auszuführen beliebt. Das von dem russischen Absolutismus ekrasierte, zermalmte Ich nimmt dadurch Revanche, daß, es sich selbst in seiner revolutionären Gedankenwelt auf den Thron setzt und sich für allmächtig erklärt – als ein Verschwörerkomitee im Namen eines nichtexistierenden „Volkswillens“. Das „Objekt“ zeigt sich aber stärker, die Knute triumphiert bald, indem sie sich als der legitime „ Ausdruck des gegebenen Stadium. des geschichtlichen Prozesses erweist. Endlich erscheint auf der Bildfläche als ein noch legitimeres Kind des Geschichtsprozesses – die russische Arbeiterbewegung, die den schönsten Anlauf nimmt, zum erstenmal in der russischen Geschichte nun wirklich einmal einen Volkswillen zu schaffen. Jetzt aber stellt sich das „Ich“ des russischen Revolutionärs schleunigst auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte – diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt diese Rolle des Lenken zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees“.

      Terror

      (1905)

       Inhaltsverzeichnis

      Seit dem erfolgreichen Attentat auf den Zaren Alexander II. hat es in Rußland keinen terroristischen Akt von solcher politischen Resonanz gegeben wie die Tötung des Moskauer Bluthundes, des Sergius Romanow. Und vom Standpunkte der moralischen Befriedigung, die jeder anständige und rechtlich denkende Mensch bei der befreienden Tat empfinden muß, steht das Attentat auf den Großfürsten Sergius auf derselben Stufe wie im vergangenen Jahre das Attentat auf Plehwe. Es atmet sich förmlich leichter, die Luft scheint reiner, nachdem eine der abstoßendsten und beleidigendsten Bestien des absolutistischen Regimes ein so schnödes Ende gefunden hat und wie ein toller Hund auf dem Straßenpflaster verendet ist.

      Diese Empfindungen sind so natürlich bei allen Kulturmenschen, daß die Tat in Moskau in unserer Presse allgemein und wie aus einem Munde als sittlicher Racheakt, als Vergeltungsakt aufgefaßt wurde. Aber mit der ganz selbstverständlichen Empfindung der moralischen Befriedigung ist die Bedeutung dieser wichtigen Erscheinung des revolutionären Kampfes in Rußland nicht erschöpft. Vielmehr muß die politische Beurteilung der neuesten terroristischen Tat von den unmittelbaren Eindrücken und Gefühlen ganz unabhängig bleiben.

      Politisch betrachtet, muß vor allem der Terror in der gegenwärtigen Situation bedeutend anders ins Auge gefaßt werden als früher. Die eigentliche terroristische Bewegung, die den Terror als systematisches Mittel des politischen Kampfes predigte und betätigte, war geschichtlich aus dem Pessimismus, aus dem Unglauben an die Möglichkeit einer politischen Massenbewegung und einer wirklichen Volksrevolution in Rußland geboren. Der Terror als System, als eine naturgemäß nur von einzelnen Individuen aus der Mitte der Revolutionäre und gegen einzelne Individuen unter den Trägern des absolutistischen Regimes betätigte Kampfmethode, war in seinem Wesen als Gegensatz zum Massenkampf der Arbeiterklasse gedacht, ob sich die terroristischen Kämpfer dessen bewußt waren oder nicht, ob sie es zugeben oder sich darüber selbst hinwegtäuschen wollten.

      Von diesem Standpunkte und aus diesem Grunde wurde auch die terroristische Taktik von der Sozialdemokratie seit jeher und namentlich in den letzten Jahren bekämpft, weil sie, so starke sittliche Befriedigung sie in jedem einzelnen Falle hervorrief, eher erschlaffend und paralysierend als aufrüttelnd auf die Arbeiterbewegung wirken mußte. Indem die wirksame Vergeltungsmethode der Terroristen unvermeidlich – besonders bei unklaren und schwankenden Elementen der revolutionären Bewegung – vage Hoffnungen und Erwartungen auf den wundertätigen unsichtbaren Arm des terroristischen

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