Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution. Rosa Luxemburg

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Rosa Luxemburg: Gesammelte Schriften über die russische Revolution - Rosa Luxemburg

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Atmosphäre des ruhigen parlamentaristen Alltags vorstellen können. Sie vergessen immer und immer wieder, daß eine ernste Massenaktion des Proletariats selbst nicht anders als in einer revolutionären Situation stattfinden kann, in einer Situation, die bereits die ganze Volksmasse, das ganze Land in Gärung gebracht hat. Ist dem aber so, dann erscheint auch die „starre Wand der Bajonette“ unter einem ganz anderen Gesichtswinkel, denn in den revolutionären Momenten, wo die Sache des kämpfenden Proletariats zur Sache des ganzen arbeitenden Volkes, zur Sache aller Ausgebeuteten und Unterdrückten wird, da erwacht auch im Soldaten der Bürger, der Sohn des Volkes, der Proletarier. Diejenigen, die das heutige Militär als eine unwandelbare feindliche Macht der Revolution des Volkes entgegenstellen, vergessen, daß die Revolution das Militär selbst in ihren Strudel zieht, sie vergessen hinter dem äußeren Kampflärm der Revolution ihre gewaltigste sozial und historisch wichtigste Seite: das politische Erziehungswerk der Revolution. Und dieses vollzieht sich nicht bloß an der Masse des Proletariats, an breiten Schichten des Bauerntums, des Kleinbürgertums, sondern auch an dem in den „Rock des Königs“ gesteckten Teil der Volksmasse.

      Die russischen Ereignisse haben wieder einmal erwiesen, daß die Revolution, die neue politische und soziale Probleme aufwirft, auch selbst in ihrem Schoße die Lösung dieser Probleme bringt. Die russische Revolution ist also wieder einmal zugleich eine Mahnung an die Kleingläubigen und zaghaften Rechenmeister in unseren eigenen Reihen, wie eine Warnung an die herrschenden Klassen, die durch immer neue Militär- und Flottenvorlagen auch bei uns Geister auf die soziale Oberfläche rufen, die sie einst nicht zu bannen verstehen werden.

      Im Feuerscheine der Revolution

      (1905)

       Inhaltsverzeichnis

      Die Maifeier wird in diesem Jahre zum erstenmal in einer revolutionären Situation gefeiert – während ein wichtiger Trupp des internationalen Proletariats in einem gewaltigen direkten Massenkampfe um seine politischen Rechte begriffen ist. Dieser Umstand soll und wird der diesjährigen Maifeier ihren besonderen Charakter aufdrücken. Nicht bloß in dem Sinne, daß überall in den Vorträgen und Resolutionen der Maiversammlungen der kämpfenden Proletarier im Zarenreiche mit einigen Worten der Sympathie gedacht wird. Die gegenwärtige russische Revolution ist, wenn sie nicht bloß mit oberflächlichen Sympathiegefühlen, sondern mit ernstem Nachdenken betrachtet wird, die eigene Sache des internationalen Proletariats, und ganz speziell ist sie mit dem wirklichen Sinn der internationalen Maifeier verbunden, sie ist eine wichtige Etappe zur Verwirklichung der beiden Grundideen der Maifeier: des Achtstundentages und des Sozialismus.

      Der Achtstundentag ist von Anfang an zu einer Hauptlosung der gegenwärtigen revolutionären Erhebung im russischen Reiche geworden. Die von der Petersburger Arbeiterschaft in der berühmten Bittschrift an den Zaren formulierten Forderungen zählen neben politischen Grundrechten und Freiheiten in erster Reihe die sofortige Einführung des Achtstundentages auf. In dem grandiosen Generalstreik, der im Anschluß an das Petersburger Blutbad im ganzen Reiche, besonders in Russisch-Polen ausbrach, war der Achtstundentag die wichtigste soziale Forderung. Auch in dem späteren, zweiten Stadium der Streikbewegung, als der allgemeine Ausstand als politische Kundgebung vorläufig beendet wurde, um einer langen Reihe partieller ökonomischer Streiks Platz zu machen, auch hier war die Forderung des Achtstundentages der rote Faden, der durch die Lohnkämpfe aller Branchen zog und den Grundton der Kämpfe, das einigende Element, die revolutionäre Note dieser Einzelkämpfe bildete. Schon die bisherige erste Periode der russischen Revolution hat sich somit zu einer mächtigen Kundgebung für die internationale Mailosung gestaltet. Sie hat gezeigt, wie kein anderes Beispiel bis jetzt, wie tief die Idee des achtstündigen Arbeitstages in der sozialen Lage des Weltproletariats wurzelt, wie sehr der Achtstundentag eine Lebensfrage für das Proletariat in allen Ländern ist.

      Kein Mensch dachte in Rußland daran, die politischen Hauptziele der jetzigen Revolution speziell mit der Forderung des Achtstundentages zu verbinden oder diese letztere gar in den Vordergrund zu stellen. In der ganzen Agitation, die dem Ausbruch der Revolution vorausgegangen war, wurde das Hauptgewicht naturgemäß und mit einer gewissen begreiflichen Einseitigkeit auf die rein politischen Forderungen: die Beseitigung der Alleinherrschaft, die Einberufung der konstituierenden Versammlung, die Proklamierung der Republik, gelegt. Das Proletariat erhob sich nun in Massen – und griff instinktiv neben den politischen Forderungen sofort zu der sozialen Hauptforderung des Achtstundentages, die gesunde revolutionäre Massenerhebung korrigierte wie von selbst die Einseitigkeit der sozialdemokratischen politisch zugespitzten Agitation und verwandelte durch diese internationale rein proletarische Forderung die formell „bürgerliche“ Revolution in eine bewußt proletarische. Die demokratische Verfassung, ja sogar die republikanische Verfassung – das sind Losungen, die ihrem historischen Inhalt nach ebensogut von bürgerlichen Klassen aufgestellt werden können, ja, eigentlich spezielles Eigentum der bürgerlichen Demokratie sind. Insofern trat die Arbeiterschaft Rußlands nur „in Vertretung“ der Bourgeoisie auf die politische Bühne. Der Achtstundentag dagegen ist eine Forderung, die nur von der Arbeiterklasse aufgestellt werden kann, die weder durch Tradition noch dem Sinne nach mit der bürgerlichen Demokratie verknüpft ist, die im Gegenteil speziell dem Träger der bürgerlichen Demokratie – dem Kleinbürgertum – in allen Ländern noch verhaßter ist als dem großindustriellen Kapital. Der Achtstundentag ist also auch in Rußland nicht die Parole der Gemeinsamkeit der proletarischen Interessen mit allen fortschrittlichen bürgerlichen Elementen, sondern die Parole des Gegensatzes, des Klassenkampfes. Vereinigt unzertrennbar mit den politisch-demokratischen Forderungen, zeigt sie sofort an, daß das Proletariat des Zarenreichs seine „Vertretung“ der Bourgeoisie in gegenwärtiger Revolution mit vollem Bewußtsein im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft übernimmt als einen Kampf der zur eigenen endgültigen Befreiung strebenden Klasse.

      Und hierin liegt die internationale Bedeutung der russischen Revolution auch für die andere Hauptidee der Maifeier: für die Verwirklichung des Sozialismus. Die Verbindung zwischen den beiden Losungen ist eine sehr enge und unmittelbare. Freilich ist der Achtstundentag an sich noch kein „Stück Sozialismus“. Er ist formell bloß eine bürgerliche Sozialreform auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Bei seiner partiellen Verwirklichung, wie wir sie hie und da erlebt haben, hat der Achtstundentag noch keine Umwälzung des Lohnsystems herbeigeführt, sondern es bloß auf eine höhere, moderne Stufe gehoben. Aber als allgemeine internationale, gesetzliche Regel, wie wir ihn fordern, ist der achtstündige Arbeitstag zugleich die radikalste Sozialreform, die im Rahmen der bestehenden Gesellschaft durchgeführt werden kann, er ist eine bürgerliche Sozialreform, aber als solche zugleich ein Knotenpunkt, in dem die Quantität bereits in die Qualität umschlägt, das heißt eine „Reform“, die aber höchstwahrscheinlich erst von dem siegreichen, am Ruder der politischen Macht stehenden Proletariat ins Werk gesetzt werden wird. Deshalb steht die russische Revolution, in der die Losung des Achtstundentages so laut als der Grundton hervortönt, zugleich im Zeichen der sozialen Revolution. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß als nächstes Produkt dieser Revolution etwa der Anfang der sozialen Umwälzung zu erwarten wäre. Im Gegenteil, als nächstes greifbares Fazit der gegenwärtigen Kämpfe wird im Zarenreiche höchstwahrscheinlich bloß eine politische Umwälzung und womöglich sogar eine ganz miserable bürgerliche Verfassung ihren Einzug halten.

      Aber unter der Oberfläche dieses rein formellen politischen Umschwungs wird ebenso sicher ein sehr tiefgreifender sozialer Umschwung Platz greifen. Die Klassenscheidung, der Klassengegensatz, die politische Reife und das Klassenbewußtsein des Proletariats in Rußland werden nach der revolutionären Periode einen Grad erreicht haben, wie er bei ruhigem Verlauf der Dinge, auch unter der Herrschaft des parlamentarischen Regimes in Jahrzehnten nicht hätte erreicht werden können. Der Prozeß des Klassenkampfes, der die soziale Revolution vorbereitet, hat in Rußland einen ungeahnten Ansporn erhalten.

      Und dadurch auch der internationale proletarische Klassenkampf. Die innere Verknüpfung

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