Baupläne der Schöpfung. Johannes Huber
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Zweifellos hängen Empathie und soziales Verhalten zusammen. Aktiviert man im eigenen Gehirn jene Enttäuschungsgefühle und Schmerzen, die man durch eigene Aktivitäten dem anderen zuführt, so wird das soziale Gewissen präziser ausgeprägt sein. Die Hemmungen sind dann größer, andere Menschen zu verletzen. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Spiegelneuronale Reflexe benötigen epigenetische Nahrung. Die Rezeptionsfähigkeit der jungen Amsel, wenn sie das Singen der Mutter erlernt, entspricht der Musikalität für Altruismus und Nächstenliebe. Diesen Feinsinn, Gutes zu tun, kann sich höchstwahrscheinlich auch der Mensch epigenetisch aneignen, wenn er die entsprechenden Determinanten antrifft.
Dabei ist man selbst nicht immer Herr des spiegelbildlichen Prägeverfahrens. Die Umwelt, die Eltern und die Umgebung tragen gehörig dazu bei, um einen Menschen die Empathie erlernen zu lassen oder nicht. Vor allem dem Elternhaus scheint eine entscheidende Prägefunktion zuzukommen. Fehlen Menschen ausreichend positive Einflüsse, kann sich das mangelnde Einfühlungsvermögen in der stillen Kommunikation mit den Mitmenschen zeigen: Nächstenliebe wird defizitär. Oder überhaupt durch andere Motive ersetzt. Gier zum Beispiel.
Deswegen hat sich die christliche Tradition in ihrem jahrtausendalten Ringen um Gut und Böse und um deren Beurteilung langsam, mit vielen Kriegen und Schmerzen von der Überzeugung gelöst, dass es ausschließlich Taten im Namen des Herrn wären, die das Himmelreich öffnen. Gläubige wissen: Letztendlich kann das nur die Barmherzigkeit Gottes schaffen. Denn ob man über ausreichende Spiegelneuronen verfügt oder nicht, entzieht sich der Kompetenz des einzelnen Menschen. Und kann nicht Richtschnur für die Moral sein.
Es ist ein Geschenk, das man nicht einfordern kann. Man hat es bekommen, oder man besitzt es nicht. Warum, entzieht sich unserem Forderungskatalog. Im Gebet Der Engel des Herrn heißt es: »Gratiam Tuam, quaesumus, Domine, mentibus nostris infunde …« Zu deutsch: »Allmächtiger Gott, gieße Deine Gnade in unsere Herzen ein.«
Trotzdem soll einem charakterlichen Egalitarismus nicht das Wort geredet werden. Dass eine Empathie, die sich an der Nächstenliebe orientiert, besser ist als eine Veranlagung, die das nicht kann, ist die Kernaussage der Bergpredigt, die seit Jahrtausenden nichts an Faszination eingebüßt hat. Es ist letztlich unchristlich – und auch das hat das Christentum erst mühevoll und durch viele Opfer erlernen müssen –, mit Steinen zu werfen, wenn jemand über wenige Spiegelneuronen verfügt, wiewohl das Zielgebot nie verdrängt werden darf: Der Altruismus, und sei er durch Spiegelneuronen bedingt, ist der goldene Schnitt des christlichen Denkens. Ihn zu erreichen, selbst wenn man in den Prägephasen nicht die Gnade der »Bespiegelung« hatte, ist zwar schwer, aber nicht unmöglich. Der Mensch kann sich ändern, wenn er wirklich will. Bis zu einem gewissen Grad.
Denn dieser freie Wille, auf den Menschen stolz sind, ist womöglich nur Illusion. Oft hat das Gehirn sich schon auf eine Handlungsalternative festgelegt, wenn der Mensch noch fest glaubt, seine Optionen seien offen. Allerdings muss der freie Wille differenzierter gedeutet werden: Im Endeffekt dient auch er der Erhaltung der Art und ist einer Anpassung und damit einem dafür notwendigen Freiraum unterworfen.
In der Hirnforschung entwickelt sich eine Dialektik der Interpretation: eine materialistische und eine für das Metaphysische offene Deutung. Der deutsche Neurophysiologe Wolf Singer ist vermutlich ein Vertreter materialistischer Zuspitzung und überzeugt, »dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, Aufbau und Funktion den gleichen Prinzipien gehorchen«. Zunächst diagnostiziert er, von niemandem so wirklich bezweifelt, die materielle »Bedingtheit« des Verhaltens. Die Verfeinerung neurobiologischer Messverfahren lasse »die als psychisch bezeichneten Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen werden«.
Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen. Somit erweisen sie sich als Phänomene, die in kohärenter Weise durch naturwissenschaftliche Beschreibungssysteme erfasst werden können.
Gegen diesen Denkanspruch richtet sich der Neurologe Gerhard Roth. »Die ernstzunehmende Gefahr«, schreibt er, »liegt in der von Neurowissenschaftlern nicht selten vertretenen Auffassung, es gäbe jenseits der neuronalen Vorgänge nichts mehr zu erklären.«
»Was soll denn da noch zu erklären sein?«, fragen dann die Hirnbiologen. Das ist doch gerade unser Ziel, dass wir den Menschen exakt und sicher mit unseren Messverfahren verstehen. Dass es für Spekulationen keinen Raum mehr gibt.
Die Freiheitserfahrung sei eine frühkindliche Illusion, denn unser Verhalten wird durch die sogenannte Autopoiese, die Selbsterschaffung des psychischen Systems, von einem sich selbst organisierenden Wettbewerb der neuronalen Erregungsmuster reguliert. Diese Autopoiese würde gleichzeitig den freien Willen töten.
Dabei scheint sich Wolf Singer selbst zu relativieren, wenn er schreibt: »Offen bleibt, nach welchen Kriterien unser Gehirn seine internen Zustände, in denen sich die Ergebnisse von Datenerfassung und logischen Schlüssen letztlich manifestiert, kohärent und stimmig beurteilt.« Also was jetzt?
Mag sein, dass unser Gehirn und unser Bewusstsein operational geschlossen sind. Ein Schnellkochtopf für Ideen und Sonstiges. Evolutionär bleibt es jedoch offen – ein Grundgesetz der adaptiven Evolution. Dafür kann mit gutem Gewissen die epigenetische Plastizität als Erklärungsmodell verwendet werden, die auch das Gehirn zu einem permanenten Zwiegespräch mit der Außenwelt öffnet. Natürlich in Grenzen, aber mit seiner anatomischen, epigenetischen Struktur.
Die Auffassung Singers, unser Gehirn wäre ein Paralleluniversum, das mit dem externen Universum nichts mehr zu tun hätte, ist evolutionsbiologisch schwer zu halten.
Der Geist, gegen den sich Singer wendet, ist die »immaterielle« geistige »Identität«, nicht eine materiell integrierte geistige Formung. Er verharrt dabei in einem Physikalismus, allerdings muss offen bleiben, ob nicht auch in unserem Gehirn Prozesse ablaufen, die nicht unbedingt der »Teilchen« bedürfen. Vor allem liegt dem Weltbild Singers eine abgelaufene Auffassung des Transzendenten zu Grunde: Er schlussfolgert offenbar, dass der »Geist« jenes Rückzugsgebiet ist, das gottgläubige Menschen als Beweis des Göttlichen brauchen.
Dem ist nicht so. Der Mensch könnte auch mit einem auf Materie fußenden Geist geschaffen sein, ohne dass es das Konzept eines Weltenbaumeisters berührte. Er aber bedient sich einer im Stoff begrenzten Geistigkeit.
Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren. In solche, die grundsätzlich zum Bewusstsein keinen Zugang haben, und in solche, die uns bewusst sind. Offenbar beurteilen wir eine Entscheidung als frei, wenn sie auf der bewussten Abwägung von Variablen gründet, also auf der rationalen Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten. Selbst wenn dieser Entscheidungsvorgang auf vorgegebenen neuronalen Prozessen beruht.
Singer steht der epigenetischen Freiheit offen gegenüber. Obwohl er sie nicht zur Freiheit erhebt. Denn unterschiedlich ist nach ihm die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: genetische Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Wünsche und Emotionen zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen in eher unbewusste oder bewusste Motive verkleiden.
Genetische Dispositionen können Fehlschaltungen bedingt haben, die das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren. Oder soziale Regeln werden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt. Oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt. Oder die Fähigkeit