Staatsmann im Sturm. Hanspeter Born
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Was die schweizerische Öffentlichkeit aufwühlt, ist der von Stalin am 30. November 1939 entfesselte Winterkrieg gegen Finnland. Nach der Aufteilung Polens hat die Sowjetunion auf kalte Weise die baltischen Staaten geschluckt und ultimativ die Abtrennung finnischer Gebiete gefordert. Als Helsinki das russische Ultimatum ablehnt, marschiert die zahlen- und waffenmässig hoch überlegene Rote Armee in Karelien ein. Die Finnen leisten heldenhaften Widerstand. Das Schweizervolk – Neutralität hin oder her – nimmt leidenschaftlich Partei für das bewunderte «Brudervolk» im Norden. Die Zeitungen berichten begeistert von den ersten Erfolgen der finnischen Verteidiger. Selbst die Fachzeitung Der Sport vernachlässigt Fussball und Eishockey, um die Taten der auf Skiern kämpfenden, weiss uniformierten finnischen Patrouilleure in Eis und Schnee zu schildern. Die Gazette veröffentlicht eine Serie betitelt «Finnland im Kampf mit den moskowitischen Banditen».
Der Bundesrat sorgt sich um die Gesundheit zweier verdienstvoller Mitglieder. Obrecht hat der unmenschlichen Arbeitslast, die er im Volkswirtschaftsdepartement bewältigt, Tribut zahlen müssen. Eine Herzattacke bindet ihn ans Krankenbett. Motta, der nach einem Schlaganfall im Frühjahr seine Arbeit im August wieder aufgenommen hat, erleidet einen zweiten Hirnschlag und fällt ebenfalls aus. An der Gesamterneuerungswahl der Regierung am 13. Dezember fehlen beide.
Die Bundesversammlung bekundet den zwei Bettlägerigen ihre Sympathie und wählt sie wieder, Obrecht mit der höchsten Stimmenzahl von allen, 166. Der seit Jahren von der Linken angefeindete Motta bringt es immerhin auf 140 Stimmen. Die Sozialisten, die den Parteiausschluss von Nicole und Genossen und die damit verbundene Abwanderung vieler welscher Wähler noch nicht verkraftet haben, markieren bloss Präsenz. Die von ihnen gegen die Freisinnigen Baumann und Wetter ins Feld geschickten Pro-forma-Kandidaten Johannes Huber und Emil Klöti kommen bloss auf 40 respektive 49 Stimmen. Schlecht schneiden Baumann mit 132 und Minger mit 130 Stimmen ab. Von beiden weiss man, dass sie an Rücktritt denken. Pilet, vor vier Jahren noch Klassenletzter, ist mittlerweile unumstritten. Er macht gute 151 Stimmen.
Nach seiner ebenfalls ehrenvollen Wahl als Bundespräsident kann sich Pilet über die lobenden Artikel von Béguin, Grellet und Savary freuen. In La Suisse schreibt Pierre Béguin, er kenne kaum einen Magistraten mit einer derartigen Aufnahmefähigkeit und Anpassungsgeschmeidigkeit. Béguin gibt zu, dass man wenig weiss über die Rolle, die Pilet in den Beratungen des Bundesrats spielt. Die Geheimnispflicht werde gut gehütet, ebenso wie der Respekt der bundesrätlichen Solidarität.
In diesem hohen Gremium, in dem die Verständigung oft durch die Erteilung einer weitgehenden Autonomie an jeden Einzelnen erzielt wird, gilt er [Pilet] indessen nicht immer als besonders bequemer Charakter und wenn wir es wagen zu schreiben, er sei «störrisch wie ein Maultier», geschieht dies nicht aus mangelndem Respekt, sondern weil er sich gerne dessen rühmt.
Béguin legt den Finger auf Schwachpunkte des neuen Bundespräsidenten. Der «ausgezeichnete Techniker» habe nicht die «Natur eines Volksführers». Eine gewisse Reserviertheit des Charakters halte ihn von der für die Regierenden so nützlichen «parlamentarischen Geselligkeit» fern und er habe «wenig Lust an Intrigen». Im Bundesrat gebe es keine undankbarere Aufgabe als diejenige Pilets und keine schwerere Hinterlassenschaft als diejenige, die er angetreten hat. Béguin meint damit die Sanierung der hoch verschuldeten Bundesbahnen. Man habe manchmal das Gefühl gehabt, dass all das Unverständnis und all der Widerstand Pilet zwar nicht entmutigt, aber enttäuscht habe. Gleichwohl setzte er sein Werk fort, ohne auf Beifall zu schielen oder Dankbarkeit zu erhoffen.
Indem er mit klarem Geist die Geschicke des Landes lenkt, kann und wird er zeigen, dass sein Talent und sein Charakter auf der Höhe seiner Verantwortung sein werden.
In der Gazette betont Pierre Grellet einen andern Aspekt von Pilets Charakter:
Jedermann ist sich über die glänzende Intelligenz des Magistraten einig, der zum zweiten Mal zu den höchsten Ehren aufsteigt. Aber das vielleicht Beste an ihm ist seine Verbundenheit mit dem heimatlichen Boden, die erdhafte Verwurzelung dieses Mannes mit derart städtischen Allüren. M. Pilet-Golaz ist eine Illustration der helvetischen Weisheit, wonach die Kenntnis der Schweiz von der Kenntnis des eigenen Geburtskantons herrührt.
Pilets vielfältige, offene, umfassende Bildung schöpfe «aus einem autochthonen, aus den überlagerten Schichten sich folgender Generationen geformten Grund». Grellet erinnert an den schönen Satz des grossen französischen Sozialistenführers Jean Jaurès, wonach wir durch die «Unverrückbarkeit der Gräber und das Schaukeln der Wiegen» zutiefst mit unserer Heimaterde verbunden sind.
Unsere nationale Aufgabe ist es mehr denn je, sich um unseren höchsten Magistraten zu scharen, der zum grössten Teil die Last unseres Schicksals tragen wird, der aufgerufen sein wird, Entscheide zu treffen, von denen Sein oder Nichtsein der Nation abhängen kann.
Vielleicht noch klarer als Béguin und Grellet durchschaut ein dritter Schriftsteller, Journalist und Bellettrien, Léon Savary, das Wesen des nicht leicht zu ergründenden Pilet. Er schildert ihn als Schwerarbeiter, der gleichwohl wenig Zeit brauche, um seine Geschäfte zu erledigen. So bleibe ihm die Musse, sich mit der allgemeinen Politik zu befassen, den «Lauf der Ideen durch die Welt zu verfolgen», zu lesen und nachzudenken.
Was wir in der Regierung brauchen, sind Staatsmänner, die die Lage beherrschen, die es verstehen, ein Problem in seiner ganzen Breite, und nicht bloss in seinen kleinsten Einzelheiten zu studieren, die eine wahre politische Kultur besitzen. M. Pilet-Golaz entspricht voll diesen Anforderungen. Er ist viel gereist; er war und bleibt im Kontakt mit eminenten Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern. Ausgestattet mit einer scharfen Beobachtungsgabe, lässt er sich nichts entgehen, das ihm nützlich sein kann.
Der neue Bundespräsident sei ein guter Menschenkenner:
Mit einer ganz waadtländischen Finesse erkennt er über den Schein hinaus die Realität eines Charakters. Mit jedem ist er liebenswürdig, wobei er seine erlesene Freundlichkeit mit einem Spürchen schelmischer Boshaftigkeit würzt. Er weiss genau, wem er Vertrauen schenken und vor wem er sich hüten muss. Glaubt nicht, dass dies eine belanglose Eigenschaft ist, man kann kein wahrer Staatsmann sein, wenn man sich nicht darauf versteht, die Leute zu beurteilen. Dies war die Meinung Richelieus, es war auch diejenige Talleyrands.
Am Samstag, 16. Dezember 1939, feiert Lausanne seinen Sohn, der zum zweiten Mal das Amt des Bundespräsidenten antritt. Empfang im Schloss hoch oben in der Cité. Begleitet vom Waadtländer Regierungspräsidenten Ferdinand Porchet – seinem väterlichen Freund und Mentor – und von General Guisan, inspiziert Pilet die Ehrentruppe. Darauf begibt sich der von dicht gedrängten Zuschauern applaudierte Umzug zur festlich beflaggten Kathedrale. Dort entbietet Porchet die Wünsche des Kantons, der Gemischte Chor singt die Waadtländer Hymne und dann schreitet Marcel Pilet-Golaz zur Rednertribüne.
Letztmals hat Pilet zum Reformationsjubiläum 1936 in dem ehrwürdigen gotischen Münster gesprochen. Er wird nicht vergessen haben, dass ihm damals Henry Vallotton, der Präsident der Waadtländer Radikalen, eine fast dreissigjährige enge Freundschaft aufkündigte. Vallotton nahm Freund Marcel übel, dass dieser nach der Abwertungsdebatte im Nationalrat, in der Vallotton als Fraktionsführer der Radikalen dem Bundesrat aus der Patsche half, sein Verdienst nicht entsprechend würdigte, ihn sogar verspottet haben soll. In der Reformationsrede griff Pilet zu allem noch das «Parteienregime» an, was Vallotton auf sich bezog. Die Freundschaft zerbrach endgültig, als Henry Marcel (ungerechterweise) vorwarf, seine Bewerbung für den heiss begehrten Pariser Gesandtenposten ungenügend unterstützt zu haben. Seither begegnen sich die beiden einflussreichsten Waadtländer Bundespolitiker, die sich eine Zeitlang nicht einmal mehr duzten, mit eisiger Höflichkeit.
Vier Jahre später, in der gleichen Kathedrale