Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel
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Im Gefolge religiöser Umbrüche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das Fürsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der Fürsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht für Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befähigen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt Arbeitsplätze vermittelt.
Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:
»Der einzige Weg ist die planmäßige erziehende Bemühung um den einzelnen Armen. Mit der Unterstützung und durch die Unterstützung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fürsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).
Begreiflicherweise musste eine so verstandene Fürsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsähnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und Waisenhäusern gab, die darum bemüht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen Ansprüchen zurück (Röper 1976, 102).
Interessant ist die Reform der städtischen Armenfürsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nämlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der ›Sozialdisziplinierung‹ der untersten Bevölkerungsschichten der spätmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frühen Ansätzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »Fürsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte räumliche und soziale Entfernung aus der Gemeinschaft, so hat etwa Foucault am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit geistig Behinderten (1969) und Straftätern (1977) exemplarisch herausgearbeitet, dass Fürsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen für eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, während er ausgegrenzt ist.
Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfügbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenüberstand. Mit dem Aufkeimen frühkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich:
Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden Arbeitskräftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung härtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).
Auch in den alten Handelsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurden bald Anstalten des ›neuen‹ Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an holländischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der Zuchthäuser, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhängig von der allgemeinen Armenfürsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederländische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher Straftäter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nützlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pädagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland für den ›neuen‹ Anstaltstyp eher ungünstig. Er setzte sich dort erst verspätet, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, allmählich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte Bevölkerungsrückgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen häufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der Einführung und Entwicklung neuer Produktionszweige, während pädagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.
1.3 Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)
Neue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik für die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der übersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und Pflichtgefühl. Die für die Kinder- und Jugendfürsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663–1727), der um 1695 damit begann, die späteren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schützen, sollten die Kinder in den Anstalten unter ständiger Aufsicht stehen und allzeit nützlich beschäftigt werden, um sie, früh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).
Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pädagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurückgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung für die Versorgung von Schutzbedürftigen bei den Städten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemüht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer Notstände und gründet dafür eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle Unterstützung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur)