Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel

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Kinder- und Jugendhilfe - Joachim Merchel

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verbunden, sondern von der ökonomischen Ausbeutung durch den Arbeitgeber, der zugleich aufgrund der Gewerbeordnung von 1896 die ›väterliche Erziehungsgewalt‹ über seine Lehrlinge hatte.«

      Dieses Aufbegehren und der Versuch, der alltäglichen Repression zu begegnen, spiegelten sich vielfach in der klassenkämpferischen Zielsetzung der sozialistischen Jugendverbände.

      Schon einige Jahrzehnte früher begannen sich die Kirchen, vorwiegend aus sozialen und missionarischen Motiven, in Form von Jünglingsvereinigungen, Gesellenvereinen, Jünglingsbünden u. a. m., für männliche Jugendliche zu engagieren (Gries/Ringler 2003, 18). Zu dieser freien Jugendpflege gesellte sich Anfang des 20. Jahrhundert – gestützt auf die preußischen Jugendpflegeerlasse von 1911 und 1913 – die behördliche Jugendpflege.

      Hauptsächlich aus zwei Gründen wurde damals eine immer stärkere Notwendigkeit gesehen, junge Menschen außerhalb von Familie und Schule zu betreuen: Einerseits sollte mit der Förderung der Jugendpflege auf vermeintliche Gefährdungen reagiert werden, denen schulentlassene männliche Jugendliche ausgesetzt waren (Wirtshäuser, Alkohol, Tanz, Schundliteratur, Prostitution usw.), andererseits stellte die Jugendpflege aber auch eine Reaktion auf die vermeintliche Gefährdung dar, die von diesen Jugendlichen ausging (Verwahrlosung, Kriminalität, politische Radikalisierung usw.).

      Besonders plastisch wird dieses in Sorge gekleidete Kontrollbedürfnis des Staates in den ersten Sätzen des preußischen Jugendpflegeerlasses von 1911:

      »Die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Veränderung der Erwerbsverhältnisse mit ihren nachteiligen Einflüssen auf das Leben in Familie und Gesellschaft hat einen großen Teil unserer heranwachsenden Jugend in eine Lage gebracht, die ihr leibliches und noch mehr ihr sittliches Gedeihen aufs schwerste gefährdet« (zit. nach Naudascher 1990, 32).

      Wenn man so will, zielte die staatliche Jugendpflege also vor allem auf die »Schließung der ›Kontrolllücke‹ zwischen Schulbank und Kasernentor« ab (Lindner 2015, 736; auch Peukert/Münchmeier 1990, 8).

      Für das Jahr 1911 wurde zu diesem Zweck erstmals ein Fonds von einer Million Reichsmark zur Verfügung gestellt, aus dem jugendpflegerisch tätige Vereine und Verbände in ihrer praktischen Arbeit unterstützt werden konnten – allerdings nur, wenn diese vaterländisch gesinnt waren (Müller 1994, 26). Mit dem ministeriellen Erlass wurde nicht nur der Begriff Jugendpflege endgültig etabliert, sondern auch die Notwendigkeit freier Jugendpflege hervorgehoben:

      »Das Werk der Jugendpflege bedarf aber vor andern des Wohlwollens und der opferwilligen Mithilfe aller Vaterlandsfreunde in allen Ständen und Berufsklassen. Es ist daher dringend erwünscht, dass die warmherzige Liebe und opferwillige Begeisterung, die ihr von Einzelpersonen und freien Vereinigungen wie den zahlreichen kirchlichen Vereinen, den großen Turn-, Spiel- und Sportvereinigungen, Vereinen für Volkswohlfahrt u. a., bisher schon zugewandt worden ist, ihr nicht bloß erhalten bleibe, sondern an Umfang und Stärke zunehme« (zit. nach Naudascher 1990, 33).

      Nun ist es vermutlich richtig zu konstatieren, der Staat habe mit der Jugendpflege vorrangig sozialdisziplinierende Absichten verfolgt und versucht, mit dieser Form der Unterstützung außerhalb der Kinder- und Jugendfürsorge Jugendliche in die staatliche Ordnung zu integrieren, allerdings weist Müller darauf hin, dass sich dadurch erst die Möglichkeit für eine wenigstens modellhafte pädagogische Praxis eröffnet habe, »die durch die nachträgliche Hilfe bei der Korrektur defizitärer Lebenslagen und Lebensläufe gekennzeichnet war« (Müller 1994, 26).

      Wie eben gezeigt, sind im Übergang zum 20. Jahrhundert an vielen unterschiedlichen Stellen Ansätze und Initiativen entstanden, die verdeutlichen, dass der Staat – ob aus echter Sorge, oder untergründiger Angst vor den »gefährlichen Klassen« sei dahingestellt – seine Funktion nun anders definierte als im zurückliegenden Jahrhundert. Die Folge dieser neu entstandenen staatlichen und kommunalen Aktivitäten war jedoch zunächst eine starke behördliche Zersplitterung der Zuständigkeiten, denn noch immer arbeitete eine Vielzahl von Behörden relativ unkoordiniert neben- und miteinander: die Polizei in ihren verschiedenen Funktionen, die Gewerbeaufsichtsbehörden beim Kinderarbeitsschutz, die Pflegekindaufsichtsbehörden, die städtischen Armen- und Waisenämter, die Ordnungsbehörden der Landgemeinden, die in den einzelnen Ländern unterschiedlich organisierten FE-Behörden, die kommunalen Gesundheitsämter, die Vormundschafts- und Strafgerichte u. a. m. (Scherpner 1979, 172). Erst dieses Nebeneinander macht die Forderung nach einem Amt verständlich, das diese unterschiedlichen Bereiche koordiniert.

      Bereits im Jahr 1880 war es zu einem überregionalen Zusammenschluss von Fachleuten auf dem Gebiet der Armenpflege zum »Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit« (heute: »Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.«) gekommen, der sich bald als Motor für wesentliche Neuerungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendfürsorge erweisen sollte. Neben Ärzten, Lehrern und sonstigen Fachleuten gehörten diesem Kreis auch Vertreter kommunaler bzw. staatlicher Behörden an, ebenso wie Vertreter der freien Wohlfahrtspflege. Der Deutsche Verein beschäftigte sich neben anderen, die Armenpflege betreffenden Fragen auch mit Fragen der Kinderfürsorge. Stellungnahmen des Vereins befassten sich beispielsweise mit Fragen der Fürsorge für arme, schwächliche und kranke Kinder, der Fürsorge für arme aufsichtlose Kinder, der Fürsorge für verwaiste, verlassene und verwahrloste Kinder, der Zwangserziehung, der Fürsorge für vernachlässigte und misshandelte Kinder und der Fürsorge für arbeitende Kinder. Die Anregungen des Vereins wurden in erster Linie von den großen Städten aufgenommen, deren finanzielle Möglichkeiten einen zügigen Ausbau der Kinder- und Jugendfürsorge zuließen. Besonderer Wert wurde dabei auch auf die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Armenvierteln und die gesundheitliche Prävention gelegt (ebd., 166 ff.).

      Enttäuscht von dem z. T. zögerlichen Vorgehen des Deutschen Vereins, begannen sich aber bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Vorkämpfer der »Jugendfürsorgebewegung« vom Deutschen Verein abzuspalten und sich z. B. im AFET, dem »Allgemeinen Fürsorgeerziehungstag« (heute: »Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe«) neu zu formieren. Die Anfänge des AFET gehen auf das Jahr 1889 zurück, als sich eine Reihe von Anstaltsleitern aus verschiedenen preußischen Provinzen zusammenfanden, um in einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch einzutreten und sich über Methoden zu verständigen, wie die – als Folge des preußischen Zwangserziehungsgesetzes von 1878 – an sie überwiesenen Minderjährigen zu behandeln seien. Dieser Kreis hatte sich jährlich erweitert, so dass dort im Jahr 1900, dem Jahr des Inkrafttretens des BGB, auf einem Treffen in Hannover bereits alle norddeutschen Bundesländer vertreten waren. Diese forderten im Folgenden eine vereinheitlichte, eigenständige Jugendfürsorge, besondere Jugendbehörden und teilweise auch schon ein besonderes Jugendfürsorgegesetz (Hasenclever 1980, 204).

      In einem Festbeitrag anlässlich des 60-jährigen Bestehens des AFET heißt es: Durch die an das BGB geknüpfte Fürsorgeerziehungsgesetzgebung

      »regte sich alsbald bei den Behörden, die für die Durchführung der Fürsorgeerziehung verantwortlich waren, wie auch bei den Erziehungsheimen und Erziehungsvereinen, denen die Betreuung Minderjähriger anvertraut wurde, der Wunsch nach einem ständigen Erfahrungsaustausch. Dies war umso nötiger, als die Behörden sich gar nicht in der Lage sahen, für die nunmehr in viel größerer Zahl als bisher ihnen zugewiesenen Erziehungsfälle die erforderlichen Einrichtungen selbst zusätzlich zu den vorhandenen staatlichen und kommunalen Heimen zu schaffen. Sie entschlossen sich daher, in erster Linie aus pädagogischen, aber auch aus finanziellen Gründen, sich der erzieherischen Erfahrungen zu bedienen, die bereits bisher in Heimen und Organisationen der Freien Jugendwohlfahrt, insbesondere der Inneren Mission und des Caritasverbandes, gemacht worden waren. Gelingen konnte die gemeinsame Arbeit jedoch nur, wenn unter den Beteiligten eine Basis des Vertrauens griff und wenn von vornherein eine ständige wechselseitige Aussprache über alle organisatorischen und

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