Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel
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Durch die offensichtlichen Nachteile der bestehenden behördlichen Zersplitterung einerseits und dem Nebeneinander von privater und öffentlicher Fürsorge andererseits wuchs nun sukzessive der Druck auf den Gesetzgeber, die bestehende Praxis der Jugendfürsorge neu zu ordnen. Im Deutschen Verein, der mittlerweile zum wichtigsten überorganisatorischen Zusammenschluss im Fürsorgewesen geworden war, herrschte allerdings Uneinigkeit darüber, in welche Richtung das System der Kinder- und Jugendhilfe reformiert werden sollte: Die eine Gruppe, die sich überwiegend aus den Vertretern der Kommunen im Deutschen Verein zusammensetzte, betrachtete die Kinder- und Jugendhilfe mehrheitlich noch immer als präventive Armenpflege. Sie wollte deshalb die Armenkindfürsorge zusammen mit der öffentlichen Armenpflege neu regeln und als eigenständiges Gebiet der öffentlichen Fürsorge ausbauen. Durch eine Übertragung fürsorgerischer Aufgaben auf überregional organisierte Verbände und Organisationen hoffte man dort, die in ländlichen Gebieten noch immer erheblichen Missstände auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe zu beheben und die Ausstattung der öffentlichen Fürsorge insgesamt verbessern zu können. Die zweite Gruppe betonte dagegen das Primat der Erziehung gegenüber der Versorgung und tendierte dahin, die Kinder- und Jugendhilfe aus der Armenpflege ganz herauszulösen und mit der neu entstandenen Berufsvormundschaft in einer eigenen Behörde zu verbinden. Nachdem sich die auf mehreren Hauptversammlungen des Deutschen Vereins von der zweiten Gruppe erhobene Forderung nach einem Jugendamt nicht durchsetzen konnte, verlagerte sich das Schwergewicht der Reformdiskussion, wie eben schon kurz angedeutet, auf das Archiv Deutscher Berufsvormünder, den AFET und die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (Hasenclever 1978, 28 ff.). Wie sich noch zeigen wird, sollte sich diese Gruppe mit ihrer Forderung nach einem eigenen Jugendamt letztlich durchsetzen.
In diesem Zusammenhang muss auch die stetige Professionalisierung der Sozialarbeit Erwähnung finden (Sachße 1986; Amthor 2003, 2012; Hering/Münchmeier 2014), durch die die Bestrebungen zur Zusammenfassung der unterschiedlichen Zweige der Jugendfürsorge zu einem einheitlichen Rechtsfeld zusätzliche Impulse erhielten. Das Entstehen der sozialen und sozialpädagogischen Berufe war eng verknüpft mit dem Entstehen der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, deren Vorkämpferinnen u. a. nach beruflichen Aufgaben für Frauen suchten, die sie auf dem Gebiet der sich neu bildenden Jugendfürsorge und des reformbedürftigen Armenwesens in reichlicher Weise fanden. Insbesondere die Berufe der Sozialarbeiterin und Jugendleiterin waren Tätigkeiten, die überwiegend von Frauen und vorwiegend für Frauen geschaffen wurden. Bereits 1905 wurde deshalb in Hannover die »Christlich-Soziale-Frauenschule« gegründet, der bald, 1908 in Berlin, die von Alice Salomon geleitete »Soziale Frauenschule« folgen sollte (Amthor 2003, 195 ff.). In der Eröffnungsrede von Alice Salomon am 15. Oktober 1908 heißt es:
»Es ist Wunsch und Hoffnung der Gründer unserer Schule, dass Sie [die anwesenden Frauen, d. Verf.] hier Ihre Arbeit finden sollen. Wunsch und Hoffnung zugleich. Und die Berechtigung zu dieser Hoffnung nehmen wir aus der Wahl der Unterrichtsgebiete, die im Mittelpunkt unseres Lehrplans stehen. Es sind pädagogische und soziale Aufgaben, für die Sie hier vorbereitet werden sollen« (zit. nach Müller 1988, 139).
In ehrenamtlicher und hauptberuflicher Mitwirkung sollten die so ausgebildeten Frauen später einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Jugendhilfe in Praxis und Theorie sowie auf die Ausgestaltung des RJWG nehmen (Hasenclever 1978, 30).
Ungeachtet der noch immer anhaltenden Reformdiskussion etablierten sich in der kommunalen Praxis etwa um 1910 die ersten Jugendämter, die allerdings mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet und in unterschiedlicher Form organisiert waren. So wurde etwa 1909 in Mainz der Städtische Erziehungsbeirat zu einer selbständigen »Deputation für Jugendfürsorge« umgestaltet; 1910 wurde in Hamburg das erste mit umfassenden Kompetenzen ausgestattete Jugendamt geschaffen, zu dem bereits die Jugendgerichtshilfe (JGH) gehörte. Es folgten die Städte Breslau (1912) und Lübeck (1913). Obwohl diese Versuche weder repräsentativ waren noch flächenwirksam umgesetzt wurden, ist die Tendenz kaum zu übersehen, die unterschiedlichen Aspekte der Jugendfürsorge rechtlich und organisatorisch zu verbinden, d. h. sie aus der allgemeinen Fürsorge bzw. dem allgemeinen Strafrecht herauszulösen und zu integrieren. Gleichzeitig wurden an mehreren Stellen im Reich Bestrebungen vorangetrieben, die private Jugendfürsorge mit den kommunalen Behörden stärker arbeitsteilig zu verbinden. Zu diesem Zweck bildeten sich halbamtliche Jugendfürsorgeausschüsse oder -vereine, die auch gesetzlich nicht geregelte Aufgaben übernehmen konnten und in denen private und amtliche Fürsorgeaktivitäten zusammengefasst wurden (Hasenclever 1978, 28).
Sieht man von den kirchlichen Verbänden teilweise ab, so herrschte im Bereich der privaten Fürsorge allerdings noch immer ein reges Neben- und Gegeneinander: Neben Vereinen, die auf lokaler Basis arbeiteten und sich nur mit sehr spezifischen Notständen befassten, standen die Zweigvereine von Organisationen, die für größere Bezirke zuständig waren, und neben landes- oder reichsweit durchgegliederten Fachverbänden die konfessionellen Einrichtungen und humanitären oder politisch geprägten Bestrebungen. Die auch hier bestehenden Ansätze zu einer Vereinheitlichung von Organisationsformen bleiben zunächst in ihrer Wirkung begrenzt und scheiterten in erster Linie an den grundsätzlichen weltanschaulichen Interessengegensätzen zwischen den einzelnen Einrichtungen und Vereinen. Weiterhin ungeklärt war auch die Frage nach dem Verhältnis von staatlicher bzw. kommunaler und privater Jugendfürsorge (Scherpner 1979, 176).
Vor diesem Hintergrund wurde deshalb auch innerhalb der freien Jugendfürsorge der Ruf nach einem Jugendamt zunehmend lauter, das nicht nur die öffentliche Fürsorge einheitlich regeln, sondern auch als Bindeglied zur privaten Fürsorge fungieren sollte. Das größte Hemmnis auf dem Weg zum kommunalen Jugendamt war allerdings die Tatsache, dass die verschiedenen Zweige der Jugendfürsorge noch immer auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhten. Erst mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) 1923 bzw. dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) 1924 konnte dieses Hindernis weitgehend beseitigt werden.
Obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine reichsweit verbindlichen rechtlichen Strukturen gab, lassen sich bereits vor der Einführung des RJWG inselartige Konsolidierungen und Institutionalisierungen interorganisatorischer Beziehungen zwischen freier und öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe beobachten. In Teilbereichen der Jugendfürsorge war diese Entwicklung bereits zu Beginn des Jahrhunderts weitgehend zum Abschluss gekommen: »Die Ausbildung des Terrains der Zwangserziehung war (…) beim Inkrafttreten des RJWG völlig abgeschlossen. Tatsächlich sank (…) seitdem der Zöglingsbestand« (Peukert/Münchmeier 1990, 7). Auch in anderen Bereichen bildete und verfestigte sich in dieser Zeit – z. B. in Form von überregionalen Verbänden und lokalen Zusammenschlüssen – zunehmend eine »kommunikative Infrastruktur«, die es erst erlaubte, strategische Allianzen und organisationsübergreifende Interessenkoalitionen zu formieren. Trotz der zu beobachtenden Spezialisierung, der Entdeckung neuer sozialer Notstände und der dadurch bedingten Vervielfältigung der Aufgaben scheint sich also in dieser Zeit zunehmend eine kollektive Identität herauszubilden, die in engeren oder weiteren Zirkeln um das Problem »erziehungsbedürftige Kinder und Jugendliche« kreiste. Bereits hier deutet sich damit an, was dann einige Jahre später mit der Verabschiedung des RJWG zu einem vorläufigen Endpunkt kommen sollte – die strukturelle Fusionierung von Jugendfürsorge und Jugendpflege zu einem eigenständigen Handlungssystem mit rechtlich und institutionell garantiertem Zuständigkeitsanspruch.
Fragt man nach den unmittelbaren Folgen dieses Zusammenwachsens für einzelne Organisationen, so war damit ein entscheidender qualitativer Sprung verbunden: Zum einen verstärkte die allmähliche Herausbildung einer sinnhaften kollektiven Orientierung als Folge einer zunehmenden Strukturierung, Institutionalisierung und arbeitsteiligen Gestaltung zwischenorganisatorischer Beziehungen die Notwendigkeit zu einer rechtlichen Normierung und Verständigung über methodische Standards. Zum anderen musste sich dadurch auch der Umweltfokus einzelner Organisationen verschieben: Waren relevante Umwelten für Erziehungs- und Fürsorgeeinrichtungen zunächst vor allem ihre Mittelgeber (Spender und Spenderinnen, religiöse Gemeinschaften, kommunale Entscheidungsgremien usw.), so wurde diese Umwelt nun zunehmend komplexer