Kinder- und Jugendhilfe. Joachim Merchel
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Durch das RJWG wurde also zum einen die zentrale Stellung des Jugendamts, das mit Fachleuten besetzt und von der Wohlfahrtsbehörde unabhängig sein sollte, verbindlich festgeschrieben, zum anderen trugen Kollegialverfassung und Subsidiaritätsgrundsatz der bedeutenden, historisch gewachsenen Rolle der freien Verbände Rechnung. »Diese Mischform zwischen professionell ausgestatteter Behörde und Repräsentativorgan barg die Gefahr mangelnder Effektivität einerseits, sie bot andererseits aber auch ein Dach für die Zusammenführung der entstehungsgeschichtlich völlig heterogenen sozialpädagogischen Aktivitäten« (Peukert/Münchmeier 1990, 10).
Insgesamt gilt es jedoch festzuhalten, dass das am 14. Juni 1922 im Reichstag verabschiedete RJWG »kein eigentliches Leistungsgesetz, sondern ein Organisationsgesetz [war, d. Verf.], in das verschiedene Leistungen eingestreut waren. Eigentlich war das RJWG ein Jugendamtsgesetz« (Peukert 1986, 137). Sofern es jedoch die ohnehin eher schwach ausgeprägte Leistungsseite des Gesetzes betraf, blieb diese auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. April 1924 weitgehend Makulatur. Zwischen der Verabschiedung und dem Inkrafttreten des Gesetzes hatte sich die politische und ökonomische Situation im Deutschen Reich weiter verschärft: Unter dem Eindruck der allgemeinen Geldentwertung kamen bald Zweifel an der Umsetzbarkeit des Gesetzes auf. Allen voran die Städte erhoben nun starke Bedenken gegen die zusätzlichen Belastungen, die ihnen mit dem Gesetz aufgebürdet würden, und so war zunächst fraglich, ob das Gesetz überhaupt in Kraft treten könne bzw. solle. Schließlich einigten sich im Dezember 1923 die Vertreter von Reich, Ländern, Gemeinden und der freien Wohlfahrtspflege anlässlich eines Treffens in Berlin, das auf Initiative des Deutschen Vereins durchgeführt wurde, darauf, das Gesetz zwar rechtzeitig in Kraft treten zu lassen, es aber für eine Übergangsphase von drei Jahren mit erheblichen Einschränkungen zu versehen. Insbesondere bei der Durchführung der Pflichtaufgaben nach § 4 RJWG (Förderung von Maßnahmen und ggf. Schaffung von Einrichtungen für die Beratung von Jugendlichen, für Mütter im Mutterschutz, für die Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern sowie dem weiteren Bereich der Jugendpflege) wurden dabei erhebliche Abstriche gemacht. Diese Empfehlung wurde kurze Zeit später durch die »Verordnung über das Inkrafttreten des RJWG« nochmals eingeschränkt. Dabei wurden vor allem die zeitlichen Bindungen weiter gelockert, um das Kostenaufkommen für die Kommunen möglichst gering zu halten. Obwohl deshalb nach dem Inkrafttreten des RJWG in den meisten Städten und Landkreisen Jugendämter entstanden waren, setzte nur eine kleine Minderheit die Bestimmungen des RJWG auch tatsächlich um (Hasenclever 1978, 59 ff.).
1.7 Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus (1933–1945)
Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten, die mit der Einführung des RJWG verbunden waren, stellte das Gesetz eine juristische Rahmung dar, die die organisatorische Struktur des Feldes sowie grundlegende Formen der Verantwortlichkeit und Zusammenarbeit bis zur Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990/91 festschrieb. Die Jahre zwischen der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten davon keine Ausnahme: Nachdem ein 1934 vom »Reichszusammenschluss der freien Wohlfahrtspflege« vorgelegter Entwurf für ein neues Reichsjugendgesetz gescheitert war, fanden die z. T. erheblichen Veränderungen der Praxis im Nationalsozialismus überwiegend unterhalb der Gesetzesebene statt. Formell wurde lediglich die Kollegialverfassung des Jugendamts aufgehoben und analog zum »Führerprinzip« durch die allgemeine Verantwortung des Leiters der Verwaltung ersetzt, so dass 1945 das RJWG nach Wiederherstellung der Kollegialverfassung in der ursprünglichen Form von den Besatzungsmächten für anwendbar erklärt wurde (Münder/Trenczek 2015, 55).
Die Zeit des Nationalsozialismus bedeutet für die Jugendhilfe deshalb vor allem eine veränderte ideologische Ausrichtung: An die Stelle des Individuums und dessen Entfaltung trat nun die Volksgemeinschaft und der Dienst für das Wohl des Volkes; an die Stelle individueller Hilfe und Unterstützung der Versuch, Menschen unter erb- und rassepflegerischen Gesichtspunkten zu selektieren.
Konkrete Veränderungen und eine Beschneidung der Aufgaben des Jugendamts ergaben sich entweder durch eine radikale Neuinterpretation des RJWG oder durch dessen teilweise Substitution ohne formelle Änderung des Gesetzes: So entzog das Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 dem Jugendamt die Aufgabe der Mütter- und Säuglingsberatung und übertrug sie auf die Gesundheitsämter, das Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936 beendete dessen jugendpflegerische Aktivitäten und machte stattdessen die Hitlerjugend zur staatlichen Zwangsorganisation. Beides geschah, ohne dass § 4 RJWG geändert wurde (Sachße/Tennstedt 1992, 154 ff.). Während die Jugendpflege faktisch in die Hände der Hitlerjugend überging, reklamierte gleichzeitig die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) für sich die Zuständigkeit über die FE.
Die NSV wurde am 3. Mai 1933 als Parteiorganisation anerkannt und übernahm kurze Zeit später die Führung des »Reichszusammenschlusses der Wohlfahrtsverbände«. Bei Kriegsbeginn waren mehr als 12 Mio. Deutsche Mitglied in der NSV. Inhaltlich konzentrierte sich die die NSV auf präventive und familienunterstützende Hilfen für »Erbgesunde« (Gemeindepflegestationen, Schwangeren- und Mütterberatungen, Pflegedienste etc.). Daneben organisierte sie Sammlungen für das »Winterhilfswerk« (WHV) und das Hilfswerk »Mutter und Kind«. Im engeren Bereich der Jugendhilfe eröffnete die NSV erstmals flächendeckend Erziehungsberatungsstellen – nun nicht mehr wie bisher als Abteilung in einer Jugendpsychiatrie, sondern als pädagogisches Beratungsangebot (Kuhlmann 2012, 94). Zwar blieb die grundlegende rechtliche Zuständigkeit des Jugendamts für vormundschaftliche Aufgaben und die Durchführung der Jugendhilfe erhalten, dennoch drängte die NSV sowohl als Träger (insbesondere Kindergärten) als auch durch die Verstärkung von Aufsichtsmaßnahmen und Einflussnahme auf Personalentscheidungen immer stärker in die Jugendhilfe hinein.
Indirekt stärkte auch die Ausdifferenzierung der Fürsorgeheime, in denen sich zunächst noch sehr unterschiedliche Zielgruppen fanden, den Einfluss der NSV: Im Rahmen der nationalsozialistischen Selektionspolitik etablierte sich sukzessive die Unterscheidung zwischen erbgesunden, normal begabten Minderjährigen, gefährdeten, aber noch resozialisierbaren Minderjährigen und solchen, die anlage- oder charakterbedingt als kaum noch zu resozialisieren galten. Die NSV »strebte vor allem eine positive Auslese ›erbgesunder‹ Kinder und Jugendlicher an, die lediglich aufgrund sozialer Umstände in ihrer Entwicklung gestört waren« (Sachße/Tennstedt 1992, 164) und beanspruchte deren Betreuung für sich.
Bei den NSV-Jugendheimstätten, die für diese Kinder konzipiert waren, handelte es sich um halboffene Einrichtungen, in denen nach NSV-Kriterien besonders förderungswürdige Kinder und Jugendliche untergebracht wurden (Kuhlmann 2012, 100 ff.). Die Unterbringung sollte ein Jahr nicht überschreiten, danach sollten die Zöglinge, wenn möglich, wieder zur eigenen Familie zurückgebracht werden. Quantitativ war die Bedeutung der NSV-Heimstätten zwar gering, alleine ihre Existenz bedeutete jedoch eine Abwertung der bestehenden FE-Einrichtungen. Diese waren noch immer zu rund drei Viertel in konfessioneller Hand und bestanden während der NS-Zeit fort. Überwiegend wurden dort »gemeinschaftsgefährdende Jugendliche« von den FE–Behörden,