Szenen aus der frühen Corona-Periode. Arno Widmann
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13Anja ist Ärztin. Sie erzählt einer Patientin, der sie gerade mitgeteilt hat, dass sie nicht infiziert ist: „Es ist eine fürchterliche Erkrankung. Nehmen Sie sich in Acht. Sowie Sie etwas spüren, kommen Sie zu mir. Viele Corona-Patienten liegen eine Woche oder länger zu Hause im Fieber. Dann erst kommen sie zu mir, weil sie keine Luft mehr bekommen. Lassen Sie sich, sowie sie Fieber haben, untersuchen. Wenn Sie schon wochenlang Fieber haben, ist es womöglich zu spät. Manche kommen ja erst, wenn sie das Gefühl haben, sie werden sterben. Das ist schrecklich. Sie sind bei klarem Verstand. Alles funktioniert. Nur atmen können sie nicht. Es ist, als würden sie ertrinken, aber es dauert viel länger. Es ist immer dieselbe Diagnose. Beidseitige Lungenentzündung.“
14Gennaro ruft Anja an. Er erzählt ihr, in Neapel sängen die Nachbarn von ihren Balkonen aus einander zu. „Typisch Neapel“, freut sie sich. „In Siena, ja sogar in Bozen machen sie es auch“, erwidert Gennaro. „Ganz Italien singt?“ „Glücklicherweise nicht“, meint er. Sie sieht ihn grinsen. „Manchmal trommeln sie auch oder deklamieren Sätze aus Serien.“ „Du hast einen schönen Bariton“, sagt Anja. „Im Land der Tenöre nicht unbedingt eine Empfehlung“, meint er. Dann erzählt er von seinem Ururgroßvater, der neapolitanische Lieder schrieb, von denen manche zu Volksliedern wurden. „Keiner ist mehr Neapolitaner als ich“, meint Gennaro, „aber ich finde es super, dass sie jetzt auch in Siena singen.“ Er sagt „super“! denkt Anja. Er spricht weiter: „Das Coronavirus eint Italien. Dass es sich Mailand unterwirft, das sich doch den Süden unterworfen hatte, wirkt Wunder. Der Süden kann endlich einmal Mitleid haben mit Italien“. Gennaro genießt seine neue Rolle und als echter Neapolitaner, als intelligenter Zeitgenosse, weiß er das und macht sich lustig darüber.
15Alex liest, dass früher, als die Menschen noch nicht so viel mit einander zu tun hatten, das menschliche Mikrobiom, das ja eh schon die Individuen markanter charakterisiert als ein Fingerabdruck, sich von einem Tal zum nächsten so stark unterschied, dass man vom Besuch aus dem Nachbartal mit Mikroben infiziert werden konnte, gegen die das Abwehrsystem des eigenen Clans nicht gewappnet war. Wir betonen heute gerne, der Massenverkehr mache uns anfälliger für Infektionen. Das stimmt. Aber es stimmt wahrscheinlich auch, dass die Menschheit und also auch ihr Mikrobiom heute durchmischter – „durchrasster“, lachte Alex – ist als früher, also doch auch resistenter. Der Hass auf den Fremden, der angeblich zur menschlichen Natur gehöre, hat wahrscheinlich zu tun mit den so empfindlich aufeinander reagierenden Mikrobiomen einer Zeit, in der Ackerbauern sorgfältig voneinander getrennte Territorien bewohnten.
16Lukas ist selig. Seine Mutter blickt nicht mehr angewidert auf den vor dem Computer hockenden Filius und sagt: „Geh doch mal raus, mit anderen Kindern spielen.“ Lukas ist völlig versunken in Doom Eternel. Er muss sie alle sieben schaffen. Vorher wird er nicht aufhören. Er ist jetzt beim zweiten Anlauf. Und es sieht nicht so aus, als könnte er so bald wenigstens den vierten Widersacher ausschalten. Ein gutes Spiel.
17Im Fernsehen erklärt eine Barfrau, sie achte sehr darauf, dass sie sich nicht mit den Fingern im Gesicht herumfahre, aber wenn ein Gast sie mal streicheln wolle, da habe sie nichts dagegen.
18„Ich bleibe lieber hier. Oder möchtest du, dass ich komme?“ „Nein, ich wollte dich gerade bitten, in deiner Arbeitswohnung zu bleiben. Mich regt das alles sehr auf. Ich könnte nicht ertragen, wenn du versuchen würdest, mich zu beruhigen. Lass uns tun, was deine Kanzlerin sagt: Meiden wir soziale Kontakte.“ Thomas war froh, dass Silvia auch auf Distanz gehen wollte: „Ein altes Ehepaar ist eines, das weiß, wann es sich besser aus dem Wege geht.“ „Machst du dir Sorgen?“ „Nein, aber unsere Situation erinnert mich an die Pascalsche Wette. Der sagte, es sei nicht zu beweisen, ob es Gott gebe oder nicht.“ „So verhält es sich mit dem Virus.“ „Exakt, und ich gedenke, mich ihm gegenüber zu verhalten, wie Pascal uns riet, uns Gott gegenüber zu verhalten.“ „Wenn es das Virus nicht gäbe, nähmen wir keinen Schaden, wenn wir uns so verhalten als gäbe es ihn.“ „Wenn es ihn aber gibt und wir verhielten uns so, als gäbe es ihn nicht, endete es tödlich.“ „Ich rufe dich an.“ Das tat Silvia die ganze Corona-Periode über nicht.
19„Niemand weiß, seit wann es Viren gibt. Zwei Milliarden Jahre sollen es aber schon sein“, Lisa erzählt ihrer Rommérunde von dem, was sie im Fernsehen gesehen hat. Erna hatte vorher von den „Hesselbachs“ berichtet, einer Serie, die der Hessische Rundfunk in den sechziger Jahren ausgestrahlt hatte. Jetzt hat sie der Sender komplett in die Mediathek gestellt. Die Damen schwärmen von den Frisuren und machen sich lustig über den hessischen Dialekt. „In jedem Milliliter aus unseren Ozeanen befinden sich mindestens eine Million Bakterien, aber 100 Millionen Viren! Würde man die winzigen Dinger aneinanderreihen, sie ergäben eine Kette, die über eine Strecke von zehn Millionen Lichtjahren reichen würde, also einhundert Mal durch die Galaxis.“ Lisa hatte sich all die Zahlen gemerkt. Weil sie sich aufgeschrieben hatte. In der Mediathek konnte sie den Film anhalten und sich Notizen machen. Das war mühsam. Aber es war schön. Sie war wieder eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben machte. Schade, dass kein Lehrer da ist, der sie lobt und über ihre hochgesteckten Zöpfe streicht.
20Anja ist entsetzt. Ihr Sohn Lukas zeigt ihr einen Film, den ihm ein Klassenkamerad geschickt hat. Man sieht zwanzig, dreißig Schüler, die im Luisenstädtischen Kirchpark demonstrativ miteinander knutschen. Jeder zweite hat eine Flasche Alkopop in der Hand und lässt sie kreisen. „Sie haben schulfrei, um zu Hause zu bleiben“, schimpft Anja. „Was hast du mit denen zu tun?“ Lukas versucht sie zu beruhigen: „Schau sie dir an! Die sind alle viel älter.“ „Wer hat dir den Film geschickt?“ „Johannes. Beruhige dich, die cornern doch nur.“ „Ich werde mich nicht beruhigen. Die infizieren einander und dann den Rest der Welt. Diesen Johannes kannst du vergessen.“ Lukas war in der Schule aufgeklärt worden: „Die jungen Leute werden infiziert. Aber es macht ihnen nichts aus. Sie werden nicht krank. Krank werden die Alten. Oma und Opa. Sagen die Virologen.“ „Mein schlauer Sohn!“ sagt Anja ironisch. Das heißt aber auch: Sie hat sich beruhigt. Vielleicht hat sie auch einfach keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Lukas.
21„7, 7 Milliarden Menschen waren wir vergangenen Sommer auf der Erde. Wenn das Coronavirus davon ein paar umbringt, jubelt der Rest des Planeten. Wir sollten mitjubeln. Zehn Milliarden, so viel sollen es 2050 sein, wären definitiv zu viel. Heute wird das Wasser schon knapp. Bald kann es die Luft sein, wenn wir so weiter machen mit dem Abholzen der Regenwälder. Wir müssen endlich begreifen: SARS-CoV-2 meint es gut mit uns. Unser Reflex, es zu vernichten, ist verständlich, aber genau das Falsche.“ Alex redet ein auf Thomas. Sie gehen um den Reichstag herum. Thomas lächelt. Er will ihr nicht wiedersprechen. Schließlich gibt es universalgeschichtlich keinen vernünftigen Einwand gegen das, was sie sagt. Aber ist das jetzt der Augenblick für Universalgeschichte? Andererseits: Gibt es einen Augenblick dafür? Während sie hinübergehen zum Brandenburger Tor, geht er zu ihr und flüstert ihr ins Ohr: „Selbst 150 Millionen Tote würden da doch kaum einen Effekt machen.“ Sie stößt ihn zurück: „Alle reden jetzt davon, dass das Coronavirus den Nationalismus bestärke, dass jeder sich wieder selbst der Nächste sein werde, aber der Nationalismus ist doch jetzt schon auf dem Vormarsch. Je mehr wir sein werden, desto heftiger wird der Kampf um die Ressourcen geführt werden. Wir sagen, wir müssen die Verbreitung des Virus aufhalten. Wir sollten zuerst einmal Schluss machen mit unserer eigenen Verbreitung.“
22„Die Weißen erschießen uns nicht nur mit ihren Gewehrkugeln. Sie haben auch unsichtbare Kugeln, mit denen sie uns umbringen“, erklärten die Algonquians, als sie beobachteten, dass sie starben, wenn sie auch nur Kontakt hatten mit den Briten. Die nannten das Land, nachdem