Konstruktive Rhetorik. Jürg Häusermann
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In Bezug auf die Rollenerwartungen hilft es, die autoritären Vorstellungen einer übertriebenen Wirkung zurückzuschrauben.
Inhaltlich ermöglicht es die offene Planung, weil man während der Rede auf Impulse aus dem Publikum eingeht und dieses Aufbau und Informationsdichte mitgestaltet.
Formal betrifft es die Wahl von Mitteln, die auf Anschlussfähigkeit ausgerichtet sind – vom Blickkontakt bis zur verbalen Interaktion.
Letztlich ist Dialog eine Eigenschaft der gesamten Rede. Auch wenn sich die Rede dabei nicht in eine lebhafte Diskussion verwandelt, so soll doch kein Zweifel daran gelassen werden, dass jede Rede, jeder Vortrag, jede Vorlesung, jede Präsentation nur der zweitwichtigste Beitrag zum Thema ist und sich immer in weitere Auseinandersetzungen, Gespräche, Debatten einfügt, gerade auch in solche Formen, die für den Dialog offener sind. Formal und inhaltlich ist jede konstruktive Rede ein Angebot zum Dialog.
Die Kommunikationsform der Symmetrie
Das Prinzip des Dialogs ist die Symmetrie. Alle Gesprächspartner sind gleichberechtigt. Das Prinzip des Monologs ist dagegen die Asymmetrie. Einer spricht, die anderen hören zu. Eine monologische Situation stellt sich ein, sobald einer eine besondere Rolle einnimmt: wenn er etwas zu erzählen hat, wenn er über eine Sache mehr als andere weiß, wenn er seine Macht als Vorgesetzter oder Elternteil ausübt oder wenn er zu einer Motivations- oder Überzeugungsrede ansetzt.
Natürlich kommt die reine dialogische Form so wenig vor wie die rein monologische. Auch im Dialog tendiert immer wieder ein Gesprächspartner (wie die obigen Beispiele zeigen) dazu, das Heft an sich zu reißen und zu monologisieren. Und auch im Monolog gibt es von jeher dialogische Unterbrechungen: Applaus, Zwischenrufe, Antworten auf Fragen an das Publikum usw. Die grundsätzliche Unterscheidung zu treffen, ist dennoch wichtig, weil intuitiv die reine monologische Form für traditionelle Redeaufgaben häufig als die einzige Lösung erscheint. Man wird z.B. für eine Führung durch ein Museum engagiert und bereitet sich vor wie auf einen klassischen Vortrag, ohne andere Formen überhaupt zu überlegen.93 Dabei kann man umgekehrt vorgehen und bei der Frage anfangen, was das Publikum beizutragen hat.
Einer der Helden meines Studiums war Hans Rudolf Oswald, Ordinarius für Anorganische Chemie an der Universität Zürich.94 Ich habe seinen Vorlesungsstil bis heute in Erinnerung, obwohl meine Leidenschaft für sein Fach nie so recht erwacht ist. Aber der Kontakt, den er zu seinen Zuhörenden hatte, war beeindruckend. Und wir waren immerhin einige hundert Studienanfänger, für die Chemie nur ein Pflichtfach war, ohne das wir in unserem Hauptfach (teils Medizin, teils Biologie) nicht weiterkamen.
Es war eine der ersten Semesterwochen. Man wusste noch nicht so recht, wie eine Uni funktioniert. Zudem war die Arbeitsbelastung hoch, man eilte von einem Fach zum nächsten, von einem Übungslabor ins andere. Alle fühlten sich leicht überfordert. Da saßen wir also und warteten, dass es gleich wieder um Bindungen und Wechselwirkungen gehen würde, und wir waren wenig motiviert.
Und da tat der Professor etwas Unerwartetes: Er trat einen Schritt auf die Bankreihen zu und schaute uns, die dreihundert Greenhorns, an und dann fragte er mit seinem unverwechselbaren Berner Akzent: „Wie geht es?“
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Das Stöhnen und die Klagen begannen sofort. Er lachte und nahm das, was ihm zugerufen wurde, auf. In wenigen Sekunden hatte er ein Gespräch mit seinem Publikum angefangen, in dem er auf die Situation der jungen Leute einging und auch ein paar tröstende Worte fand.
Zu Beginn einer Vorlesung „Wie geht's?“ zu fragen, ist eine gute Idee. Es funktioniert aber nur, wenn die Frage ernst gemeint ist, wenn man den so Gefragten Zeit lässt, eine Antwort zu geben – sei sie verbal oder nonverbal. Wenn man dies tut, nimmt man ein Element der dialogischen Alltagssprache in die scheinbar monologische Situation herein, verändert die Atmosphäre und stellt eine Beziehung her, die auch den späteren Verlauf der Vorlesung bestimmen kann.
Merkmale des Dialogs
Dass eine Rede dialogisch ist, lässt sich sowohl anhand ihrer sprachlichen als auch ihrer sprecherischen und körpersprachlichen Merkmale zeigen.
Dialogisch im Sinne dieses Buchs ist eine Redeweise, die auf Austausch ausgerichtet ist: auf Austausch von Inhalten und Äußerungen auf jeder Ebene des Ausdrucks, sei es durch Worte, durch die Stimme oder durch Mimik und Gestik. Hinzu gehört immer auch das Zuhören; ohne die aktive Beteiligung des Publikums kann von Dialog keine Rede sein. Dialog beruht auf der Achtung des anderen, unabhängig davon, ob es ein Gesprächspartner in einer alltäglichen Unterhaltung oder das Publikum einer offiziellen Ansprache ist. Und auch diese Haltung gilt idealerweise nicht nur für diejenige, die am Reden ist, sondern auch für die von ihr Angesprochenen. Unabhängig von der sonstigen Rollenverteilung (Lehrer/Schülerin, Vorgesetzte/Untergebener, Pfarrer/Gemeinde etc.) sind die Beteiligten insofern Partner, als sie an einem gemeinsamen Prozess beteiligt sind. Die Information, die die Rednerin gibt, ist nicht wichtiger als das Verstehen des Publikums; ihre Worte wiegen nicht schwerer als die Signale, mit denen das Publikum sie dieses Verstehen erkennen lässt.
Die klassische Rhetorik erfordert von der Rednerin, dass sie, wie Josef Kopperschmidt es formuliert95, die Zuhörenden „zuhörbereit“ macht. Die konstruktive Rhetorik dagegen erwartet, dass die Rednerin mit den Zuhörenden in den Dialog tritt. Sie wird